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Wie der Soldat das Grammofon repariert

Wie der Soldat das Grammofon repariert

Titel: Wie der Soldat das Grammofon repariert Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sasa Stanisic
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verschlafene, dann verärgerte Stimmen. Ein Anrufbeantworter. Hallo? Ich bin es, Aleksandar. Ich komme. Bist du da? Asija?
     
    »10:09 Samstag, 11. April 1992«, gleich blitzt es. Am fünften Tag der Belagerung schlagen Granaten in den Bergen ein, gleiten nur gelegentlich in die Stadt ab. Im Hof vor dem Hochhaus drängen sich Kühe und Schafe, Hufe auf dem Beton zwischen Fiats und Yugos.
    In der Nacht sind Flüchtlinge in den Keller und das Treppenhaus eingezogen. Alte und Mütter und Babys, wie heiße Brote in Tuch gewickelt. Sie suchen Schutz im großen Gebäude, weil in ihren Dörfern keine Gebäude mehr für Schutz übrig sind – keine großen, keine kleinen, keine ganzen. Nur halbe Wände, Ruß und Keller, und wie sieht ein Keller ohne Haus aus? Ich male, das Papier auf den Knien, ein Glas ohne Sprung.
    Sie bleiben! Je mehr, desto geselliger!, beschließt Walross, und seine Stimme hallt durch das Treppenhaus. Er ist so etwas wie der Bürgermeister vom Hochhaus geworden unter Präsident Aziz, der eine Waffe besitzt, wie es sich für einen Präsidenten gehört. Walross gewinnt beim Uno gegen die Bauern, ich lerne seine Regeln beim Zuschauen.
    Unsere Pferde hat man uns genommen. Unsere Söhne hätte man uns auch genommen, wenn die nicht vorher in die Waffen gegangen wären, seufzen die Bauern wegen ihrer
Pferde, senken wegen ihrer Söhne den Blick, klagen um ihre Mädchen.
    Die werden in unseren Dörfern nicht Halt machen, sagt ein Mann mit gezwirbeltem Schnurrbart, ich frage nach seinem Namen, schreibe »Ibrahim« auf einen Becher und schenke ihm Wasser ein. Die zahnlosen Frauen kauen das Brot mit offenem Mund. Sie riechen säuerlich und legen sich im Flur schlafen. Man muss über sie steigen, sie wachen auf und schimpfen kraftlos. Ich nenne sie nicht Flüchtlinge, ich sage: Schutzlinge. Sie haben ein Mädchen mit so hellem Haar beschützt, dass ich meinen Vater fragen muss, ob es für so ein Hell einen Farbnamen gibt.
    Er sagt: Schön.
    Ich sage: Schön ist keine Farbbezeichnung.
    Schön und ihr Onkel mit dem gezwirbelten Schnurrbart essen mit uns im Keller. Ibrahim wartet, bis Schön mit dem Kopf auf seinem Schoß eingeschlafen ist und erzählt leise von ihrer Flucht. Entkräftet und hungrig seien er und seine Nichte auf die anderen Schutzlinge gestoßen. Die Schutzlinge fütterten sie und betteten das kränkliche Schön in einem zur Hälfte abgeschnittenen Lada, der von zwei Eseln gezogen wurde. Wir sind die Letzten aus unserem Dorf, Ibrahim überlegt kurz, wir sind die Letzten aus unserem Nichts. Unsere Häuser gibt es nicht mehr. Ich erzähle euch alles, damit ihr wisst, mit wem wir es zu tun haben, aber erst will ich schlafen. Und dann, gute Leute, dann will ich mich rasieren, der Bart ist mir voll Erinnerung an die schlimmste Nacht. Ibrahim streichelt Schön über das Haar. Die Kleine hat alles verloren, sagt er, alles und jeden.
    Mehr muss er nicht sagen. Ich lasse Schön nicht aus den Augen, ich lasse nicht zu, dass ihr jemals wieder etwas zustößt. Schön spricht nicht. Schön kann so ruhig sitzen, dass sie unsichtbar wird. Wenn Schön nicht in meiner Nähe ist, suche ich sie. Schön klammert sich an eine abgewetzte Tasche. Am Taschengurt baumelt ein schmutziger, zerrupfter Teddybär.

    Ich heiße Aleksandar. Ich male unfertige Bilder, schau, das sind Bücher ohne Staub, das ist Jurij Gagarin ohne Neil Armstrong, hier ist ein Hund ohne Halsband. Das ist Nena Fatimas ungeflochtener Zopf. Ich heiße Aleksandar, und immer fehlt etwas nicht so Schönes. Findest du Jungs mit großen Ohren sympathisch?
    Ich bin Asija. Sie haben Mama und Papa mitgenommen. Mein Name hat eine Bedeutung. Deine Bilder sind gemein.
    Wo sind Asijas Eltern?
    Kenne ich einen der Soldaten da draußen? Ist Miki vielleicht bei ihnen?
    Was braucht man? Das Taschenmesser, die fünfzig Mark und etwas Glück, ist das alles?
    Wie schwer wiegen Erinnerungen in einem Bart?
     
    »5:09 Dienstag, 12. Februar 2002.« Ich habe alle Višegrader Straßennamen notiert, alle Kinderspiele, ich habe eine Liste von Gegenständen aufgestellt, die es in der Schule gab, mitsamt den fünfhundert Anspitzern, die Edin und ich wie Hänsel und Gretel über den Bombenschutt verteilt hatten. Ich will die Vergangenheitsschablonen nachzeichnen. Im Schlafzimmer meiner Großmutter liegt ein Karton mit neunundneunzig unfertigen Bildern. Ich fahre nach Hause und male jedes einzelne zu Ende.

Von dreihundertdreißig zufällig gewählten Nummern in Sarajevo ist bei

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