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Wie der Soldat das Grammofon repariert

Wie der Soldat das Grammofon repariert

Titel: Wie der Soldat das Grammofon repariert Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sasa Stanisic
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erscheint. An welchem Tag war der Lichtschalter, welcher Tag der 6. April 1992? Ich stelle das Datum um zehn Jahre zurück. Gleich blitzt es, und mein Vater wird ein Buch auf meinen Kopf legen und mit Bleistift meine Größe am Türrahmen markieren. Gleich blitzt es, und ich werde 1,53m groß sein, und
     
    Vater weckt mich: Aleksandar, heute fällt die Schule aus, wir gehen zu Oma, zieh dich an, ich sage dir, was du mitnimmst.
    Man wächst im Schlaf.
     
    Gleich blitzt es. Ich erwarte, zurückversetzt zu werden an einen Tag – der Computer zeigt an: an einen Montag –, an dem ich vor meinem Vater Angst haben werde. Angst vor seiner Liste der Dinge, die ich packen soll, vor seiner Mahnung: nur das, was du brauchst. Angst, weil er nicht sagt, wofür.
    Was braucht man?
     
    »7:23 Montag, 6. April 1992.« Gleich blitzt es, und ein fast vergessenes Gefühl wird zum Blick auf staubverklebte Spinnweben an den Kellerwänden in Erwartung des nächsten Einschlags. Ich mache eine Liste von Gegenständen im Keller meiner Großmutter, an die ich mich erinnere. Ausgediente Bügelbretter, kopflose Puppen, Kleidersäcke mit Hemden, die
nach altem Kürbis riechen, Kohlen und Kartoffeln und Zwiebeln, Motten und Katzenpisse. Unter Detonationen flackernde Glühbirnen. Gänsehaut um Gänsehaut. Nicht, weil die Angst so groß ist, sondern weil die Wahrscheinlichkeit, dass man im Frieden einschläft und im Krieg aufwacht, so klein ist.
     
    Heute fällt die Schule aus. Im Wohnzimmer sitzt meine Mutter und näht sich Geldscheine in ihren Rock.
     
    All das, was vor dem Aufwachen unvorstellbar war, wird Vater mit seinen Worten und seiner Nervosität einläuten. All das, was vor dem Unvorstellbaren gut war, rückt mit Vaters Unsicherheit und den ersten Granaten in die Ferne. Einen Frosch anzünden wollen ist weiter weg als Japan; Träume von Jasnas ausgebeultem Hemd so unpassend, dass ich mich für sie schäme; die Pflaumenernten ausgefeiert, die Geheimzeichen, wie sich Edin gegen die unsichtbaren Verteidiger freilaufen soll, unnütz. Was geschehen wird, ist so unwahrscheinlich, dass keine Unwahrscheinlichkeit übrig bleibt, um eine erfundene Geschichte zu erzählen.
    Ich mache eine Liste von Dingen, für die ich nie bestraft wurde. Die Tafel anzünden. Frösche, Tauben und Katzen in Čika Veselins Wohnung einquartieren, nachdem er Onkel Bora eine Dampfwalze genannt hat. Durch das Fenster spähen, als Zorans Tante Desa die müden Männer vom Staudamm besuchte. Schneebälle auf Windschutzscheiben werfen. Präsidenten des Lokalkomitees anrufen und mit verstellter Stimme sagen: hier Tito, Sie sind hohl. Anspitzer und Hefte aus dem Kaufhaus stehlen. Omas Blumenvase zerschlagen.
     
    Warum bist du nicht auf der Arbeit, Papa?
    Vater drückt die Stecknadeln an meinem Poster von Roter Stern mit dem Daumen tiefer in die Wand. Du packst den großen Rucksack, sagt er. Sieben Unterhosen. Sieben Paar Socken. Regenjacke. Mütze. Feste Schuhe. Du ziehst die Turnschuhe
an. Zwei Hosen. Einen dicken Pullover, zwei-drei Hemden und T-Shirts, nicht zu viele. Die grüne Angel-Weste mit den vielen Taschen. Ein Handtuch, Zahnpasta, Zahnbürste, Seife. Ich habe dir Taschentücher und deinen Pass unten auf den Tisch gelegt … Hast du ein Lieblingsbuch?
    Ja.
    Das ist gut, nickt Vater, streicht meine Keiner-konnte-ahnen-dass-du-gewinnst-Urkunde glatt und schließt die Tür nicht, als er hinausgeht.
     
    »7:43 Montag, 6. April 1992.« Neben den Taschentüchern wird ein Taschenmesser liegen und ein Notizblock mit Adressen und Nummern von allen unseren Bekannten und Verwandten. Vater wird in seinem Atelier sein. Die Leinwände, die Bilder, die Farben, die Pinsel – er verstaut alles in einer Ecke und verhängt es mit Decken. Ich kauere auf der Treppe und sehe ihm zu. Er schiebt meine alte Matratze vor die Leinwände und setzt dem Ganzen seine Baskenmütze auf. Er schließt die Tür ab. Wir fahren zur Oma, das Hochhaus hat einen großen Keller. Die erste Granate dröhnt im großen Keller eng und poliert. Ich werde denken: eng und poliert. Nicht wie im Film, nicht ernsthaft explodierend, nicht bebend, nicht rieselnd. Etwas Schweres, das nicht genügend Raum hat, um auseinander zu brechen – eng. Und frei vom Rauschen, klar, sauber, metallisch glatt – poliert – wird das Enge in die Kellerwände gespritzt und Emilija Slavica Krsmanović macht in die Stille nach der fünfzigsten Granate ein Bäuerchen.
     
    »0:21 Dienstag, 12. Februar 2002.« Ich mache eine Liste

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