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Wie der Soldat das Grammofon repariert

Wie der Soldat das Grammofon repariert

Titel: Wie der Soldat das Grammofon repariert Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sasa Stanisic
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von Omas Nachbarn, die wie wir Schutz im Keller gesucht haben. Ich erweitere sie um die Nachbarn aus unserer Straße, die mir einfallen. Schreibe auf ein nächstes Blatt »Kneipen, Restaurants, Hotels«, darunter: Café Galerie. Restaurant Mündung. Hotel Bikavac. Hotel Višegrad. Hotel Vilina Vlas.
    Ich wühle mich durch Suchmaschineneinträge zu:
    »fußball im krieg sarajevo training beschuss«,

    »višegrad genozid handke scham verantwortung«,
    »opfer unschuldig bombardement belgrad«,
    »milošević internationales versagen interessen«.
    Ich scrolle durch Foren, lese mir Beleidigungen und nostalgische Schwelgereien durch, klicke und klicke und notiere mir fremde Erinnerungen, Montenegriner-Witze, Kochrezepte, Namen der Helden und der Feinde, Augenzeugenberichte, Frontberichte, lateinische Namen der Drina-Fische, lade mir neue bosnische Musik herunter, klicke auf den ersten Link zu: »den haag eigentor europäische union srebrenica«, und lese, der Kriegsverbrecher Radovan Karadžić halte sich in Belgrad auf, worauf mein Computer abstürzt. Ich drücke die Reset-Taste. Mein Gesicht spiegelt sich im schwarzen Bildschirm, und ich weiß mit einem Mal nicht mehr, wonach ich hier, in meiner Wohnung mit Blick auf die Ruhr, Tausende Kilometer von meiner Drina entfernt, suche. Das Hintergrund-Foto von der Brücke in Višegrad erscheint, aber nicht einmal das Foto habe ich selbst geschossen.
     
    »16:14 Donnerstag, 9. April 1992.« Der Lastwagen fährt vor. Sechs steigen aus. Zwei bleiben da, trinken Cola. Sie tragen Stiefel. Vier spähen durch die Fenster im Erdgeschoss. Sie durchqueren den Hof. Krsmanović und Spahić. Zwei Familien? Mischehe? Untermieter? Das Schloss gibt nach. Zwei durchsuchen das Wohnzimmer. Zwei steigen in den Keller. Sie schießen die Kellertür auf. Sie reißen die Decken herunter. Sie zerlöchern das Stillleben »Die Schlange und der optimistische Brief an eine junge Demokratie« und »Das Porträt von B. als Virtuosin zärtlicher Geigen«. Sie stoßen die alte Matratze zur Seite. Sie machen sich die Mühe und zerbrechen jeden einzelnen Pinsel. Sie bemalen sich mit Acrylfarben gegenseitig die Gesichter. Sie tragen Turnschuhe. Sie treten durch die Leinwände. Einer setzt sich die Baskenmütze auf.
     
    Ich rufe Oma an. Ich wecke sie. Sie klingt besorgt, warum rufst du so spät an?

    Oma, steht noch das grüne Haus mit dem merkwürdigen Dach? Wird die Turnhalle noch benutzt, was wird gespielt, welche Liga sind wir?
    Aleksandar …?
    Oma, es ist wichtig. Ich habe von dem Haus in der Pionirska-Straße in der Zeitung gelesen. Ist es vollständig niedergebrannt? Was ist mit Čika Aziz? Haben die Soldaten ihn jemals gefunden? Leben Čika Hasan und Čika Sead noch?
    Ich habe Listen gemacht. Oma schweigt.
    Wie steht es mit den Brücken? Ist noch mal eine Überschwemmung gekommen, seit wir weg sind?
    Du hast, sagt Oma mit ruhiger, verschlafener Stimme, früher immer deine Schritte gezählt. Die ganze Stadt hast du mit deinen Spaziergängen abgemessen.
    2349 von dir zu uns nach Hause, sage ich und bin erstaunt, dass ich das nach zehn Jahren noch weiß.
    Deine Beine sind länger geworden, sagt Oma, komm her und lauf die Wege wieder.
    Die beiden Moscheen habe ich mir aufgeschrieben, obwohl ich weiß, dass sie abgerissen wurden. Freunde, seitenweise Namen, seitenweise Spitznamen, Listen über Listen, Wetten auf die Erinnerung. Ich habe Listen gemacht, und jetzt muss ich alles sehen.
    Du musst mir das Paket nicht schicken, sage ich zu Oma, ich hol das Zeug selbst ab. Ich buche den Flug noch heute Nacht.
    Du solltest die Pflaumenblüte abwarten und mit dem Bus kommen. Omas Stimme hat nichts von der überdrehten Leichtigkeit früherer Telefonate. Stell dich nicht auf Urlaub ein, Aleksandar. Wir warten.
    Wer?
    Du bist spät, und es muss sauber gemacht werden. Du bist nie hier, um mir zu helfen, und bald ist Frühling.
    Oma?
    Ich freue mich, Aleksandar, ich brate dir Hackfleisch und mache die Milch warm, ich freue mich, ja.

     
    »3:13 Dienstag, 12. Februar 2002.« Ich habe nicht vor, zu schlafen.
    »sniperallee barrikaden wasserkanister«,
    »harry hitler potter milošević gotovina delić«,
    »es gibt kein absolutes böse und kein absolutes erinnern«,
    »ALEKSANDAR KRSMANOVIĆ WO WARST DU?«,
    »billigflüge sarajevo«.
    Ich wähle 0038733 für Sarajevo und füge dahinter wahllos Ziffern an. Ich frage nach Asija. Es gibt nirgends eine Asija, meistens gibt es nicht einmal einen Anschluss. Mehrmals

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