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Wie der Vater so der Tod

Wie der Vater so der Tod

Titel: Wie der Vater so der Tod Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tracy Bilen
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anderen Tag hätte es mich gefreut, dass er mit mir schwänzen will. Na schön, es freut mich tatsächlich, dass er mir einen solchen Vorschlag macht. Aber es fällt mir schwer, die Stimme in meinem Kopf zu übertönen: Wo ist Mom? Warum hat sie nicht angerufen? Wird sie heute beim Dairy Dream auf mich warten?
    »Nein, danke.«
    »Oh.« Er wirkt ein wenig enttäuscht.
    »Warum hasst du die Schule so?«
    Alex hebt die Brauen. »Von Hass zu reden, ist ein bisschen übertrieben. Ich hasse die Schule nicht. Sie ist mir nur egal, mehr oder weniger.«
    »Warum?«
    Er sieht mich groß an, als hätte ich ihn auf Chinesisch gefragt.
    Ich hole tief Luft und lasse den Atem langsam entweichen. Es klingt verärgert, aber in Wirklichkeit ist mir der Sauerstoff knapp geworden, während ich mit einem so heißen Typ rede. »Ich meine, was ist mit deiner Zukunft? Was möchtest du werden, wenn du – du weißt schon – groß bist?«
    »Ach, das. Keine Ahnung. Das kann ich mir immer noch am College überlegen.«
    »Hallo? Wie willst du’s bei den schlechten Noten, die du fürs Schwänzen kriegst, aufs College schaffen?«
    Habe ich das wirklich gesagt?
    Wir starren uns an.
    »Vielleicht gehe ich also nicht aufs College«, sagt er. »Vielleicht … Ach, schon gut.«
    »Entschuldige. Das hätte ich nicht sagen sollen.« Ich habe ein flaues Gefühl in der Magengrube.
    Er hebt die Schultern. »Fast hätte ich’s vergessen. Ich habe was für dich.« Er greift in den Rucksack, der so leicht aussieht, als wäre er leer. »Das Buch von Stephen King. Sie. Ich bin gestern Abend damit fertig geworden.«
    »Danke. Hat es dir gefallen?«
    »Du meinst, ob es mich zu Tode erschreckt hat? Ja, es ist ziemlich gut.«
    Als wir Mr. Robertsons Klasse erreichen, ist die Tür geschlossen. Alle werden sehen, wie wir zusammen hereinkommen. Aufregung erfasst mich. Ich öffne die Tür und suche mir einen freien Platz. Alex folgt mir und lässt die Tür hinter sich zufallen.
    »Sara und Alex? Wer hätte das gedacht?«, fragt jemand laut flüsternd, und natürlich wird gekichert.
    Mr. Robertson räuspert sich. »Entschuldigung?«, fragt er und sieht mich an. Er weiß, dass eine solche Frage bei Alex keinen Sinn hat.
    Ich schüttle den Kopf.
    Er öffnet den Mund und scheint etwas sagen zu wollen, klappt ihn dann aber wieder zu und setzt den Unterricht fort.
    An meinem Tisch schließe ich die Augen, stütze das Kinn auf die Hand und gähne alle zwanzig Sekunden.
    Denk nach. Denk nach. Wohin könnte Mom gefahren sein? Zu ihren Eltern nach Delaware? Zu ihrer Schwester nach Oregon?
    Ich muss anrufen, hebe die Hand und winke wie wild.
    »Ja, Sara«, sagt Mr. Robertson und lächelt. »Nenn uns eine der Ursachen des Ersten Weltkriegs.«
    Ich blinzle. »Ich habe keine Ahnung«, erwidere ich ohne Verlegenheit. »Kann ich zur Toilette?«
    Mr. Robertson runzelt die Stirn.
    »Bitte?«
    »Ja, geh nur.« Er seufzt.
    Alex hebt die Hand.
    »Ja, Alex?« Aus Mr. Robertsons Stimme ist die Überraschung herauszuhören. »Eine der Ursachen des Ersten Weltkriegs?«
    »Kann ich zur Toilette?«
    Die Klasse lacht.
    Mr. Robertson achtet nicht auf ihn.
    »Cody. Eine der Ursachen des Ersten Weltkriegs?«
    »Kann ich vielleicht zur Krankenschwester?«, fragt Alex. »Ich fürchte, sonst reihere ich gleich auf Ihre Nachbildung der Chinesischen Mauer.«
    Mr. Robertson bleibt völlig gelassen. »Versuch, was du willst, Alex. Ich werfe dich nicht hinaus. Höchstens schicke ich deinem Trainer eine E -Mail.« Er tritt ans Pult und wartet, die Hände schon auf der Computertastatur.
    Das ist sein Trumpf.
    Alex wendet sich zu mir um und hebt die Schultern. Ich hab’s versucht , lautet seine Botschaft. Ich flitze hinaus, bevor Mr. Robertson es sich anders überlegt und mich zurückhält.
    Die Toilette wird zu meinem Telefonhauptquartier. Ich lehne mich an ein Waschbecken, wähle die Nummer meiner Großmutter und warte.
    »Hallo!«, ruft mein Großvater.
    »Hallo, Opa. Ich bin’s, Sara.«
    »Wer?« Mein Großvater hat kein Hörgerät, aber er braucht dringend eins.
    Die Tür öffnet sich. Rachel geht an mir vorbei, mit Flip-Flops und glänzendem rosarotem Lack auf den Fußnägeln. Vor dem anderen Spiegel bleibt sie stehen und macht sich an ihr Make-up. Mist. Sie ist die Letzte, die mich beim Telefonieren belauschen soll. Rachels Vater gehört das Bestattungsinstitut von Scottsfield. Wenn man dort hingeht, steht immer der Name des zuletzt Verstorbenen auf dem Display, wie beim Nachspann eines Films.

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