Wie der Vater so der Tod
Ihre Familie ist sauer auf uns, seit wir bei Matt jemanden von außerhalb mit der Beerdigung beauftragt haben.
»Ich bin’s, Sara«, sage ich etwas lauter. »Deine Enkelin.«
Rachel kichert. Ich wende mich vom Waschbecken ab und betrachte die Graffiti an den Kabinen. An einer Stelle steht RACHEL + JASON , mit einem Herz umrahmt, doch der zweite Name ist mit Lippenstift durchgestrichen. Ich sehe zu Rachel hinüber. Besonders niedergeschlagen scheint sie mir deshalb nicht zu sein.
»Es ist Sara!«, ruft Großvater, und vermutlich sind die Worte an meine Großmutter gerichtet.
Ich höre eine gedämpfte Stimme im Hintergrund. »Einen Moment. Sag ihr, dass ich die Muffins aus dem Ofen holen muss.«
»Sie holt die Muffins aus dem Ofen!«, ruft mein Großvater. Seine Stimme ist mindestens zehnmal lauter als normal.
»Wie geht es dir, Opa?«
»Was?«
»Ich habe gefragt, wie es dir geht!«
»Es geht uns gut. Bitte sehr, da ist deine Großmutter.«
»Sara, Schatz. Müsstest du nicht in der Schule sein? Stimmt was nicht?«
Dies ist die Stelle, an der ich erwähnen sollte, dass meine Mutter verschwunden ist und mein Vater den Verstand verloren hat. »Nein, es ist alles in Ordnung«, sage ich stattdessen. »Ich bin heute krank und zu Hause.«
Die Toilette spült, und zwar viel lauter als die bei uns zu Hause.
»Du klingst nicht krank«, sagt meine Oma.
»Hab den ganzen Morgen gebrochen. Deshalb dachte ich mir, ich rufe mal bei euch an und höre, wie es euch geht. Es läuft gerade nichts im Fernsehen.«
Großmutter zögert und versucht vielleicht, die laute Toilette mit mir daheim in Einklang zu bringen. »Es geht uns gut. Heute Nachmittag haben wir für deinen Großvater einen Termin beim Kardiologen, und morgen sind wir dran mit Essen auf Rädern.« Meine Oma hält viel von ehrenamtlichen Tätigkeiten. »Welche Hilfsprojekte laufen dieses Jahr an eurer Schule?«
Unsere Familie ist das Gegenteil meiner Großeltern. Mit Ehrenamtlichkeit haben wir überhaupt nichts am Hut. Obwohl, wenn meine Mutter und ich erst einmal auf uns allein gestellt sind … Vielleicht fangen wir dann irgendwie damit an. Ich erfinde etwas, denn das ist einfacher, als mir einen Vortrag anzuhören, wie wichtig es ist, anderen zu helfen. »Ich glaube, im nächsten Monat liegt eine Habitat-for-Humanity-Sache an.«
»Oh, das ist wundervoll. Du musst mir alles darüber erzählen.«
Ich unternehme einen letzten Versuch. »Es gibt also nichts Neues bei euch?« Das ist die Stelle, an der Oma erwähnen soll, dass meine Mutter angerufen hat und zu ihnen unterwegs ist.
»Nein, nichts«, sagt Oma.
»Gut, gut. Dann überlasse ich euch jetzt dem Glücksrad .«
»Du meinst Der Preis stimmt , Schatz. Glücksrad kommt heute Abend.«
»Ja, natürlich. Bis dann.« Ich unterbreche die Verbindung.
Rachel wäscht sich die Hände und geht.
Der Anruf bei meiner Tante verläuft ähnlich, mit dem Unterschied, dass mein Onkel (der zu Hause arbeitet) kein Hörgerät braucht und meine Tante nicht glauben will, dass ich nur anrufe, um mich nach ihrem Befinden zu erkundigen. Aber ich bringe es nicht über mich, ihnen die Wahrheit anzuvertrauen. Wenn ich ihnen sage, dass meine Mutter verschwunden ist, dass sie entweder weggelaufen ist, weil mein Vater sie schlägt, oder dass er sie ermordet hat … Dann bestehen sie bestimmt darauf, dass ich die Polizei anrufe. Nein, wahrscheinlich rufen sie selbst die Polizei an, sprich Jack Reynolds. Und dann bin ich so gut wie tot. Ich kann nur geduldig darauf warten, dass Mom kommt und mich abholt. Es muss einen guten Grund dafür geben, dass sie gestern nicht erschienen ist. Mir fällt nur keiner ein.
Ich kehre in die Klasse zurück und sitze mit gesenktem Kopf auf meinem Platz.
»Du warst länger als zehn Minuten weg, Sara.« Ich blicke auf. Mr. Robertson steht neben mir.
»Tut mir leid, Magenschmerzen«, sage ich.
Mr. Robertson sieht aus zusammengekniffenen Augen auf mich herab. »Das passiert kein zweites Mal!«
Ich nicke und heuchle Aufmerksamkeit. Es hätte mir gerade noch gefehlt, dass Mr. Robertson zu Hause anruft und meine Eltern sprechen will.
So sieht meine Version von Aufmerksamkeit aus:
Starr Robertson an. Sieh immer wieder auf die Tafel.
Schreib wie der Teufel. Muss weg. So schnell wie möglich. Muss weg. Muss weg. Sie kehrt zurück. Hab Geduld. Bleib ruhig. Muss weg. Muss weg.
Tu so, als ob du nicht merken würdest, dass Alex näher rückt. Blättre die Seite im Schulbuch um, damit Alex nicht sieht, was
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