Wie die Madonna auf den Mond kam
erbärmlich. Draußen schlug die Turmuhr zur Mittagszeit.
»Mein Gott. Pavel, es ist schon spät. Ich muss nach Hause. Meine Mutter sucht mich bestimmt.«
Sie hauchte mir einen flüchtigen Kuss auf die Wange. Ich steckte Angelas grüne Kladde wieder zwischen die anderen Bücher. Buba rannte los. Sobald wie möglich würden wir weiterlesen.
Dimitru regte sich auf seiner Chaiselongue, kroch unter seinen Decken hervor und rieb sich die Augen. Er stierte mich an, als kehre er zurück aus einer unendlich fernen Welt. »Was machst du denn hier, Pavel? Sag, ist Papa Baptiste schon fort? Ist er noch böse auf mich?«
»Dimitru, wie kommst du denn da drauf? Der Pater ist tot.«
»Aber er war doch gerade noch hier.«
»Dimitru, du hast geträumt. Werd erst mal wach.«
»Aber ich habe ihn gesehen. Papa Baptiste kam durch diese Tür. Er kam auf mich zu und drohte mir mit seinem Stock. >Was machst du, Dimitru?<, schimpfte er. Ich wollte ihn um Vergebung bitten, wollte ihm die Hand reichen, aber zack, war er weg. Verschwunden!«
»Nein, Dimitru. Johannes Baptiste wurde ermordet. Er konnte nicht verschw inden, weil er nicht hier war.«
»Er war hier! Und er schimpfte.«
»Mit dir? Was hat er denn gesagt?«
»Er sagte: >Dimitru, mein hochmütiger Sohn! Bleib der Erde treu! Bleib den Menschen treu! So wie dein Vater Laszlo! Soll von deines Vaters Erbe nichts bleiben als Staub und Knochen? Kehre um! Was habe ich dich gelehrt? Wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, da bin ich mitten unter euch. Aber du, Dimitru Carolea Gabor, du genügst allein dir selbst.< Das hat Baptiste gesagt. Er hat mich verstoßen, Pavel! Ich bin ein verlorener Sohn! Verstoßen in Ewigkeit!«
»Aber du weißt doch, der verlorene Sohn wird vom Vater am meisten geliebt. Mehr als die gehorsamen Söhne, die immer brav und folgsam sind. Das hat Baptiste immer gepredigt.« »Aber da ist der verlorene Sohn auch zum Vater zurückgekehrt. Pavel, vergiss das nicht.«
7
Zwei Unbesiegbare, ein braunes Kreuz und die letzte Prozession zum Mondberg
Ich fror noch immer. Seit ich mit Buba in Angelas Tagebuch gelesen hatte, wurde mir nicht mehr warm. Mit Federkissen und Wolldecken suchte ich den wärmsten Ort im Haus auf, die Bank am Kachelofen in der Schenke. Hier hielt ich es aus. Die Fürsorge meiner Mutter tat gut. Sie briet für mich heiße Blutwurst mit Maisbrei, kochte mir Pfefferminztee, doppelt gesüßt mit Honig, und strich mir über das Haar, was sie schon seit Jahren nicht mehr gemacht hatte, zumal ich auf ihre Zärtlichkeiten immer unwirsch reagierte. Ich lag wach mit offenen Augen und beobachtete teilnahmslos Großvater Ilja, der im Halbschlaf versunken hinter der Theke des Ladenlokals dämmerte. Über ihm hing ein Kalenderblatt. Es datierte auf Mittwoch, den 20. November 1957. Erst vierzehn Tage waren seit Großvaters fünfundfünfzigstem Geburtstag verstrichen. Opa war in diesen zwei Wochen gealtert.
Dimitru stiefelte in der Dämmerung herein. Er war wieder auf der Erde angekommen. Als er rief: »Herr Wirt! Kundschaft! Mit vollem Herzen und leeren Taschen«, schlug Großvater die Augen auf. Seine grauen Gesichtszüge nahmen Farbe an.
»Setz dich«, forderte er Dimitru auf. »Seit Tagen ist hier nichts los. Ich könnte die Butike auch schließen.«
»Und dein Zigeunerfreund würde sich draußen im Frost den Hintern abschlottern. Was bist du nur für ein Kamerad?«
Ilja lachte gequält. »Zuika oder Silvaner?«
»Die Ehrlichkeit meines Volkes nötigt mich zu sagen: beides.« Opa nahm zwei Gläser und stellte Wein und Destillierten auf den Tisch. Dimitru rührte die Gläser nicht an.
»Erst bestellst du, dann trinkst du nicht. Was ist los?«
»Ich darf nicht mehr allein trinken. Ilja, du musst mir bei einem Gläschen Gesellschaft leisten«, drängte Dimitru, wohl wissend, dass Großvater seit dem Sturz in den Maischebottich in Kindheitstagen keinen Alkohol vertrug.
»Wieso darfst du nicht allein trinken? Das ist doch nicht verboten. Du zechst doch meistens allein für dich.«
»Eben drum. Aber nun nicht mehr. Nicht mehr, wenn ich auf den seligen Papa Baptiste anstoßen will. Um ihn in meiner Mitte zu wissen, muss ich zu zweit sein. Mindestens. Sonst funktioniert es nicht.«
»Ja, wenn das so ist, dann darf ich dich wohl nicht im Stich lassen.«
Ich sah, wie Großvater an sich hielt, um nicht loszuplatzen. Obwohl Doktor Bogdan aus Apoldasch ihn vor den Folgen selbst kleinster Mengen Spiritus gewarnt hatte, den sein anfälliger
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