Wie die Welt endet: Roman (German Edition)
Irgendwann würde ich es ihm sagen, das wusste ich, aber jetzt war alles noch zu frisch, es würde mich zu viel Kraft kosten, und ich war so müde. Vor lauter Schmutz und Tränen und Schlafmangel brannten mir die Augenlider.
Ich packte meinen Kulturbeutel ein, Klamotten zum Wechseln und zwei Bücher über Wildkräuter. Dann warf ich mir meine Sammlerweste über. Sie hatte ein Dutzend Taschen, wie kleine Schubladen in einer Kommode, und lief zurück zum Platz.
Bird nahm mich am Arm und führte mich zu einer kleinen Sammlung von Gegenständen: ein Kochtopf, Pfeil und Bogen, eine Machete, eine schwarze, mit Bindfaden zugebundene Plastiktüte. » Das sind meine Sachen. Kannst du die Machete und Pfeil und Bogen tragen?«
Ich nickte und hob sie auf. Bird nahm die restlichen Sachen, und wir zogen los. Einfach so.
Am Nachmittag war ich in Schweiß gebadet und fix und fertig. Ich hatte dreißig Stunden nicht geschlafen und war in dieser Zeit Mittäter bei einem Mord gewesen.
Wir erreichten die fußhohe Plastikwand, die die äußere Rhizomsperre markierte, und schoben uns in den Bambus hinein. Er kam mir vor wie eine andere Welt. Meistens standen die Stängel so dicht, dass man sich hindurchzwängen musste. Man suchte sich seinen Weg wie in einem Labyrinth, versuchte, möglichst vorausschauend die Stellen zu meiden, wo man die Machete einsetzen musste, und sich an die offeneren Flächen zu halten, wo man normal gehen konnte. Es war eine hervorragende Ablenkung, eine Aufgabe, bei der ich nicht zu denken brauchte, die aber fast meine gesamte Aufmerksamkeit erforderte.
Am liebsten schaute ich den Kindern zu. Sie bewältigten das Bambusdickicht ganz mühelos, nicht nur, weil sie kleiner waren, sondern auch, weil sie sich bewegten, als seien sie darin geboren, was wohl auch stimmte.
Ständig hörten wir es knacken. Das Geräusch schien mal lauter zu werden, dann wieder leiser, aber vielleicht bildete ich mir das auch nur ein. Wenn Wind wehte, raschelten und wisperten die langen, gestreiften Blätter dazu.
Zwar fiel es mir schwer, den Bambus als etwas Schönes zu betrachten, aber ich musste zugeben, dass er auf seine Art tatsächlich schön war. Ich sah ein paar Vögel und Eichhörnchen und andere kleine Lebewesen. Die meisten Tiere schienen ausgestorben zu sein, aber wenn man genau hinschaute, konnte man noch welche entdecken. Außerdem fand ich viele kleinere Pflanzen, besonders dort, wo der Bambus nicht so dicht wuchs.
An einem Bachufer entdeckte ich im Schatten eines Kirschbaums einen kleinen Sennastrauch. Ich bückte mich und pflückte Blätter ab.
» Was machst du da?«, fragte Bird.
Ich wusste nicht recht, wie ich es ihr erklären sollte. » Ich sammle Kräuter, die man als Medizin benutzen kann.« Ich zeigte ihr ein paar Sennablätter auf der Handfläche. » Das hier ist ein Abführmittel– es hilft einem, auf die Toilette zu gehen.«
Bird zog die Augenbrauen zusammen und wandte sich dann ab. Offenbar interessierte es sie nicht weiter.
Als wir uns für die Nacht niederließen, rief ich Ange an. Ich erzählte ihr, ich befände mich auf einer Kräuter-Expedition und berichtete ihr von der Sippe, sagte aber weder etwas von Bird noch von Tara Cohn. Vielleicht traf Ange Cortez und er erzählte ihr davon, aber sie sahen sich nicht oft, und ich konnte mir gut vorstellen, dass Cortez mit niemandem darüber sprechen würde.
Also beschrieb ich Ange die Sippe, und sie lachte und meinte, das klinge, als sei ich einer Sekte beigetreten. Bestimmt wäre ich in zwei Tagen wieder zu Hause, denn dann hätte ich es satt, Tarzan zu spielen, und brauchte dringend eine Dusche.
Das Lager war nur für eine Nacht aufgeschlagen worden; das bedeutete, wir hatten auf einem verhältnismäßig freien Platz unsere Habseligkeiten abgesetzt und uns auf dem Boden niedergelassen. Fertig. Ein paar Leute gingen auf die Suche nach Essbarem. Bird nahm mich an der Hand und führte mich ein Stück weit fort. Sie zog mich auf ein Bett aus abgefallenen Bambusblättern hinunter, und wir liebten uns.
Es war eindeutig nicht ihr erstes Mal. Sie hatte Mundgeruch, aber sie war sowieso nicht so scharf aufs Küssen. Ich empfand es als schön und natürlich, hier in der Wildnis mit diesem lieben, unbefangenen Mädchen zu schlafen.
Als wir wieder zur Sippe zurückkamen, ernteten wir keinen einzigen tadelnden Blick. Keine komplizierte Moral, kein schlechtes Gewissen. Und das war nicht vorgetäuscht, wie mir klar wurde. Es war, als wären sie gar nicht dazu
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