Wie die Welt endet: Roman (German Edition)
fähig, Dinge so zu beurteilen wie die meisten anderen Menschen.
Das Abendessen bestand aus wilden Zwiebeln, Brombeeren und Corned Beef aus der Dose. Es war nicht viel, aber ich beklagte mich nicht. Ich wollte nicht die Rolle des verweichlichten Stadtmenschen spielen. Ich kam zwar aus der Stadt, aber verweichlicht war ich nicht. Es war weder meine erste Nacht unter freiem Himmel noch meine erste selbst gesammelte Mahlzeit.
Nach dem Essen lagerten wir uns im Kreis, während Sandra, die weißhaarige alte Dame, die kaum mehr als ein Gerippe war, eine Geschichte erzählte. Ich erkannte die Handlung wieder– es war eine abgewandelte Version eines über zwanzig Jahre alten Films, King of Our Engine. Guter Streifen, aber als erzählte Geschichte eher mäßig.
Ich fragte mich, was sich wohl in dem Müllbeutel befand, den Bird getragen hatte. Also griff ich danach und zog ihn zu mir herüber. Allmählich kapierte ich, wie es hier lief. Man brauchte nicht um Erlaubnis zu fragen, wenn man etwas benutzen wollte, das jemand anders gehörte, sondern man nahm es sich einfach. Die Leute waren echte Sozialisten– anders als meine alte Sippe, in der wir zwar Nahrungsmittel und Energie miteinander geteilt hatten, nicht aber persönlichen Besitz. Dagegen hatten diese Menschen hier kaum einen Begriff von persönlichem Besitz. Ich öffnete den Beutel und schaute hinein. Den Inhalt erkannte ich sofort.
Bambusschösslinge mit schwarz-weiß gestreiften Stängeln. Die Wurzeln waren fest in Sackleinen eingewickelt. Ich schloss den Beutel wieder und verkniff mir ein Grinsen. Auch wenn ich diese spezielle Sorte noch nie gesehen hatte, würde ich doch den Tag, an dem Sebastian in Anges Wohnzimmer ganz ähnliche Wurzeln aus seinem Rucksack gezaubert hatte, niemals vergessen. Allerdings hatte ich keine Ahnung, warum diese Sippe Bambuswurzeln besaß, und ich konnte Bird jetzt auch nicht danach fragen, weil die alte Dame immer noch ihre Geschichte erzählte. So blieb ich im Schneidersitz hocken und hörte zu.
Ein kleines Mädchen, vielleicht zwei oder drei Jahre alt, kam zu mir und setzte sich auf meinen Schoß. Sie legte den Kopf zurück und lächelte mich an. Als ich ihr die Haare zauste, kicherte sie. Man konnte nicht erkennen, welche Kinder zu welchen Erwachsenen gehörten– sie liefen von einem zum anderen, als wären sie fröhliche Waisen. Mir ging auf, dass ich keine Ahnung hatte, ob sich unter den Menschen hier auch Birds Eltern oder Geschwister befanden.
Als die Geschichte zu Ende war, wollte ich ein Gespräch beginnen. » Und wie lange macht ihr das schon?«
» Was?«, fragte der kräftige Mann, den Cortez bei unserer ersten Begegnung mit der Sippe im Park angesprochen hatte.
» Dass ihr in der Wildnis lebt und nicht in Häusern wohnt.«
» Die meisten von uns schon lange, ein paar noch nicht so lange«, meldete Sandra sich zu Wort. » Und die Kinder schon ihr Leben lang. Wir reden nicht viel über unser Leben in der Stadt. Fröhliche Geschichten sind uns lieber.« Doch sie schien nicht sauer auf mich zu sein, weil ich das Thema angeschnitten hatte, sondern sagte das ganz nüchtern.
» Und warum geht ihr dann überhaupt noch in die Städte?«, fragte ich.
» In den Städten gibt es Dinge, die wir brauchen, vor allem Essen, und wir müssen auch etwas hinbringen«, erklärte Carl. Er war ein Mann in den Fünfzigern mit Überbiss. Sein Akzent war nicht so stark wie der der anderen, vermutlich war er erst kürzlich zur Sippe gestoßen.
» Treibt ihr Handel mit den Städtern?«
Ein paar Leute lachten.
» Wir geben ihnen, was sie brauchen, und wir kriegen, was wir brauchen«, sagte Carl.
Ich lächelte und nickte, denn ich verstand mehr, als sie ahnten, und das fand ich ziemlich cool. » Sprecht ihr in Rätseln, weil ihr es witzig findet, wenn ich nichts kapiere, oder soll ich es nicht wissen? Wenn es ein Geheimnis bleiben soll, könnt ihr mir das doch sagen.«
Einige Gesichter wurden ernst. Ein paar Leute nahmen ihre Webarbeiten und andere Tätigkeiten wieder auf.
Carl warf mir einen Bambussprössling, an dem er herumgeschnitzt hatte, vor die Füße. » Das hier bringen wir den Städtern.«
Ich hob den Stängel auf und hielt ihn in der Hand. » Ihr habt den Bambus in der Nähe des Platzes gepflanzt, stimmt’s?« Ich schaute Bird an. Sie lächelte wie ein Kobold und nickte so heftig, dass ihre Brüste wippten. Ich war mit den Leuten zusammen, die Cortez’ Zuhause zerstört hatten. Ironie des Schicksals.
» Arbeitet ihr für
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