Wie die Welt endet: Roman (German Edition)
jungen Männer zur Armee eingezogen.«
Im eingezäunten Bereich wurde es leerer, denn die in Gruppen eingeteilten Menschen verschwanden vorne, nahe am Park, durch ein Tor. Bald würden sie uns auch nach vorn treiben, und dann würden sie Colin und mich von Ange und Jeannie trennen.
Wir beendeten unseren Rundgang bei der Frau, die gekotzt hatte. Seitdem hatte sie sich nicht gerührt. Ihr Kopf hing immer noch über dem Kanaldeckel.
Der Kanal.
Ich zerrte einen verbogenen alten Fahrradlenker aus einem Müllberg. » Leute, stellt euch so hin, dass die Soldaten mich nicht sehen.« Mitten auf der Straße stemmte ich den Deckel hoch. » Los, kommt.« Ich kletterte auf den glitschigen Sprossen einer Leiter nach unten. Ange kam gleich hinter mir, sodass ich ihre roten Sportschuhe vor der Nase hatte.
Im Hauptabwassertunnel wateten wir durch knöcheltiefe Dreckbrühe. Ein Dutzend andere waren uns gefolgt, aber sie gingen langsamer und blieben für sich.
In regelmäßigen Abständen fielen Streifen von Sonnenlicht durch die Kanaldeckel. Ganz weit vorn wurde es heller. Von dort hallte lauter Maschinenlärm durch den Tunnel.
Ich bog nach rechts ab, in eine kleinere Tunnelröhre. Sie war so niedrig, dass wir uns tief bücken mussten.
» Weißt du, wo du hingehst?«, fragte Ange.
» Nee, keine Ahnung. Ich will einfach so weit wie möglich von den Soldaten weg.«
» Glaubt du, dass wir durch die Tunnel ganz bis zur Thirty-Eighth Street kommen?«, wollte Jeannie wissen.
Das war eine super Idee. Bei der nächsten Kreuzung konnten wir uns links halten und sechs Blocks weit der Drayton Street folgen. Dann mussten wir an der Thirty-Eighth herauskommen.
Wir stießen auf die Kreuzung und bogen links ab. Doch vor uns schien der Tunnel zum Teil blockiert zu sein. Als wir näher kamen, erkannten wir, dass er von einem Berg Leichen versperrt wurde. Wir drückten uns an der feuchten Betonwand entlang, um den Toten auszuweichen. Etwa ein Dutzend Leichen lagen hier ineinander verkeilt auf einem Haufen. Es sah aus, als hätten diese Menschen zum Zivilschutz gehört. Über ihnen sickerte Licht durch ein Kanalgitter.
» Bestimmt haben die Regierungssoldaten sie umgebracht«, sagte Ange.
» Helfen Sie mir«, flüsterte es aus dem Leichenberg. Eine Frau. Ihre Haarsträhnen fielen über einen gestiefelten Fuß, ihr Mund war mit weißem Schaum und Blut verklebt. Ein Arm ragte unter einem behaarten Männerbein hervor. Ihre Hand öffnete sich.
Jeannie ergriff sie und betrachtete die Leichen, die auf der Frau lagen. » Tut mir leid, das können wir nicht«, sagte sie und drückte der Frau die Hand. Wir hasteten weiter, und die bittenden Rufe der Frau verhallten hinter uns.
Ich zählte sechs Blocks ab, dann kletterte ich eine Leiter hinauf und schaffte es mit einiger Anstrengung, den Kanaldeckel hochzudrücken. Als Erstes sah ich ein Straßenschild: Thirty-Eighth Street.
Wir überquerten die Straße und stießen auf die Bahngleise. Wie Kakerlaken, die vor dem Schein der Badezimmerlampe flüchten, huschten wir auf dem Gleiskörper entlang. Die Schienen führten durch Hinterhöfe und unbebaute Grundstücke. Wenn wir Straßen überqueren mussten, rannten wir über die Kreuzungen. Sebastian hatte eine kluge Entscheidung getroffen– hier auf den Gleisen war nicht viel los. Wir kamen an einer verlassenen Laderampe vorbei. Ringsherum hatten sich Berge von rostenden Küchengeräten angesammelt. Unter diesen Haufen versteckten sich ganze Familien.
» Fällt euch noch jemand ein, den wir anrufen sollten? Dem wir anbieten sollten, mitzukommen?«, fragte ich. Die meisten von unseren Freunden hatten Familien oder Mitbewohner.
» Cortez?«, schlug Colin vor.
Cortez. Ich hatte ihn seit sechs Monaten nicht mehr gesehen, seit dem Abend mit den tödlichen Bauchschüssen.
» Er ist groß und kräftig, und wir können ihm vertrauen«, sagte Colin.
» Ja.« Ich rief ihn an.
Er war weit vor uns, schon auf der Interstate. Auch er war die letzten dreißig Blocks aus der Stadt heraus durch Abwassertunnel gewandert. Er erklärte sich bereit, umzukehren und auf den Bahngleisen vor der Stadt zu uns zu stoßen.
» Gutes Gespräch«, sagte ich zu Colin, nachdem ich aufgelegt hatte. Als ich Cortez’ Stimme hörte, hatte ich eine Welle von Zuneigung verspürt. Ja, es würde gut sein, ihn bei uns zu haben.
Während wir auf dem knirschenden Schotter weiterwanderten, hielten wir nach Sebastian Ausschau.
» Sophia sollten wir auch noch anrufen«, sagte Jeannie.
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