Wie die Welt endet: Roman (German Edition)
radioaktiven Verseuchung des Lake Superior alle US -Truppen aus dem Ausland nach Hause beordert wurden? Das war der erste Schritt. Die Regierung meint, wir hätten jetzt einen kritischen Punkt erreicht und sie müssten drastische Maßnahmen ergreifen, damit wir nicht ins totale Chaos abrutschen.«
» Ins totale Chaos abrutschen?«, fragte Cortez. » Das haben wir doch längst.«
Sebastian reagierte mit einem schnaubenden Lachen. » Du wirst dich noch wundern.«
Sein Tonfall gefiel mir überhaupt nicht.
» Lasst uns links vorbei! Links vorbeilassen!«, rief Cortez einer zerlumpten Gruppe vor uns zu. Eine Frau mit einem weinenden Baby auf dem Arm drehte sich herum und rief dann ihren Leuten etwas auf Spanisch zu. Sie drängten alle nach rechts und ließen uns überholen. Auf den Gleisen konnte man nur zu zweit nebeneinandergehen. Wenn wir andere überholten, mussten wir im Gänsemarsch gehen.
» Wo wir gerade von Chaos sprechen, habt ihr schon gehört, was am Thanksgiving Day in New York City passiert ist?«, fragte Cortez.
» Was denn?«, sagte Ange.
» Es hieß allgemein, die Parade auf der Fifth Avenue sollte zum ersten Mal nach sechs oder sieben Jahren wieder stattfinden. Tausende von Menschen kamen– Mütter brachten ihre Kinder mit, um ihnen die großen Festwagen zu zeigen, und alle hatten ein bisschen Hoffnung, ein bisschen Zuversicht, dass es nun bald wieder besser werden würde.«
Cortez biss an einem Fingernagel herum und spuckte die Nagelstückchen aus. » Aber dann kam die Parade. Die Festwagen waren ein einziger Albtraum, die Fußgänger von oben bis unten mit Blut beschmiert. Einer hielt einen Hundekopf hoch, dem man die Augen ausgestochen hatte. Die Kinder weinten und schrien. Die Jumpy-Jumps hatten die ganze Sache angezettelt.«
» Das glaube ich nicht«, sagte Colin. » Ich halte das für ein Gerücht. Sonst hätten sie doch im Fernsehen oder im Radio darüber berichtet.«
» Vielleicht, aber was glaubst du, wie viel von diesem Scheiß noch gesendet wird?«, fragte Cortez. » Das würde den Jumpy-Jumps doch nur helfen.«
Niemand erwiderte etwas darauf.
Schweigend gingen wir weiter, ganz mit unseren eigenen Gedanken und Ängsten beschäftigt. Inzwischen trug Colin Jeannie mehr oder weniger, und der Schweiß lief ihm an den Schläfen hinunter. Sie war furchtbar dick.
Die beiden waren mir nun ein Stück voraus, wurde mir klar, indem sie die nächste Phase ihres Lebens begannen. Die Erwachsenenphase. Ich dagegen war in einer Art ewiger später Adoleszenzphase stecken geblieben und trat immer nur auf der Stelle.
Und wir bewegten uns alle rückwärts. Wir waren wieder obdachlose Nomaden. Alles, wofür wir gearbeitet hatten, aller Fortschritt, den wir uns erkämpft hatten, war an einem einzigen Nachmittag zunichtegemacht worden. Ich besaß nicht einmal mehr eine Jacke, und zu dem Baseballspiel hatte ich meine alten Sportschuhe angehabt. Es war alles so plötzlich gekommen, dass ich die Konsequenzen noch gar nicht richtig erfassen konnte.
Zwei Menschen kamen uns auf den Schienen entgegen. Der Gang der Frau war unverkennbar, ihre kurzen Schritte, ihr rasches Hüftschwingen, als würde sie bergab gehen. Diese Energie, diese Lebhaftigkeit, obwohl sie gerade eben zwei oder drei Meilen in einem Abwasserkanal zurückgelegt hatte. Sie winkte und rannte auf uns zu. Ihr Mann trottete hinterher und wirkte weniger begeistert. Erst rief Ange ihren Namen, dann Jeannie. Die drei Frauen begrüßten sich in einer einzigen großen Umarmung.
Eigentlich hatte ich damit gerechnet, dass Sophia sich aus Respekt vor ihrem Mann von mir fernhalten würde, aber während sie Ange und Jeannie an sich drückte, suchte sie schon meinen Blick. Dann kam sie zu mir und nahm mich in die Arme. » Wie geht’s dir?«, flüsterte sie mir ins Ohr. Es war ein schönes Gefühl, von ihr umarmt zu werden. Viel zu schön– das vertraute Kribbeln meldete sich, als stünde ich unter Strom, und ich spürte ein Flattern im Bauch.
» Ganz gut«, sagte ich.
» Bestimmt?«
» Ganz bestimmt.« Ich ließ Sophia los und zog mich zurück, während die anderen sie begrüßten und sie und Jean Paul mit Sebastian bekannt machten.
Plötzlich kriegte ich Angst, dass meine alten Gefühle für Sophia wieder wach werden könnten, und damit auch mein Liebeskummer. Falls Ange und Cortez wieder ein Paar werden sollten, konnte das leicht passieren. Es ist verführerisch, sich in eine unerwiderte Liebe zu stürzen, wenn nichts anderes möglich ist. Um
Weitere Kostenlose Bücher