Wie Du Mir
Platz unter der Dusche abzuwarten.
Dampfschwaden waberten durch den Raum. Er zeichnete einen Smiley auf den Teil des beschlagenen Spiegels, wohinter er sein eigenes Gesicht vermutete.
„Sag mal“, das Prasseln des Wassers brach ab. „Was machst eigentlich du hier? Warum bist du nicht schon längst in Dublin wie Seán? Mich würden allein schon die Nachrichten total krankmachen. Gleich die ersten drei Schlagzeilen vorhin, alles Mord und Totschlag.“
Er hob die Schultern.
„Gewohnheit, wahrscheinlich.“
„Na klar, ist ja ganz normal, wenn über Nacht gleich mehrere Menschen sterben“, hinter dem Duschvorhang zischte es missbilligend.
„Was ist passiert?“ Mist, das erste Auge hatte er verfehlt.
„Die Polizei wollte ein Auto kontrollieren, da saßen irgendwelche Terroristen drin, die gleich geschossen haben.“
Das zweite Auge saß auf den Punkt. Mit Jaffa Street hatte das nichts zu tun.
„Klingt eher nach irgendwelchen Idioten. Hier in Belfast?“
„Jaja, irgendwo im Norden der Stadt. Anscheinend waren die auf dem Weg zu einem Anschlag.“ Das rechte Auge des Smileys blinzelte irritiert. Das war schlicht unmöglich. „… aber was erzähl ich da Mister Hartgesotten, dem ist das ja vollkommen egal.“
Ihren Vorwurf hörte Dally nur vom Fernseher aus.
Ein vom Schlafdefizit gezeichneter Sky News-Reporter, die Kapuze seiner Regenjacke schlampig über den Kopf gezogen, bewegte stumm die Lippen. Hinter ihm patrouillierten Bullen vor einer Absperrung.
Wo war noch mal die Mute-Taste auf dieser verdammten Fernbedienung?
Constable Paul Mirren, 27, wurde ohne Warnung aus dem am Mittwoch als gestohlen gemeldeten Fahrzeug unter Beschuss genommen. Er ringt derzeit im Royal Victoria Krankenhaus mit dem Tod, ebenso wie ein 21-jähriger Passagier des Fahrzeugs. Der Reporter sprach so vorsichtig, als könnte sich allein seine Lautstärke ungünstig auf die Heilungschancen auswirken. Bei den Toten handelte es sich um Männer im Alter von 32 und 24 Jahren, beide mit Adressen in Belfast. Die Ermittler vermuten, dass sich die bewaffneten Männer auf dem Weg zu einem Attentat befanden, als sie in der Jaffa Street auf die Patrouille trafen und sich offensichtlich bedroht …
Dallys Körper begriff schneller als sein Gehirn. Sein Zwerchfell verhärtete sich, und er würgte, doch er hielt den Atem an und beugte sich vornüber, Stirn auf den Knien, bis es vorbei war.
Er war am Leben. Sein Platz war hinter dieser Absperrung, in einem Leichenschauhaus, auf einer Polizeistation. Er hätte so sterben können, wie es sich Lucky und Rory in ihren betrunkensten Momenten ausgemalt hatten – als Held im Dienste eines vereinigten Irlands, hingestreckt von den Waffen eines Feindes in der Überzahl. Blaze of Glory.
Und was machte Dally? Er lebte, weil er mit dem Schwanz gedacht hatte. Der war offensichtlich zu weit mehr zu gebrauchen als sein Verstand.
So wie der Brechreiz vorhin überfiel ihn jetzt der Drang zu lachen. Wieder zwang er sich mit angehaltenem Atem zur Ruhe. War dieses Lachen einmal raus, würde ihn der Wahnsinn übernehmen, so wie damals in Castlereagh.
Halbwegs unter Kontrolle richtete er sich auf, und da stand Sandra neben ihm, ihr Oberkörper in ein Badetuch gewickelt, die Haut rosig von der Hitze des Duschwassers. Sie musterte Dally wie ein anonym vor ihrer Haustür abgestelltes Paket. In jeder Hand hielt sie einen Kleiderhaken mit je einem Kostüm daran – einmal dunkelblau, einmal grün.
„Was ist passiert? Du siehst aus, als wär’ jemand gestorben.“
Das Lachen explodierte erneut in ihm, zu schnell, um es zu unterdrücken, und Sandras entsetzter Blick bestätigte Dally, dass es sie nicht von seiner geistigen Gesundheit überzeugte. Sie runzelte die Stirn, dann wanderte ihr Blick zum Fernseher. Die Nachrichtensprecher verlautbarten die Reaktionen der politischen Parteien. Das ewig selbe Konglomerat aus zur Schau gestelltem Abscheu, Beschuldigungen und Schuldzurückweisungen. Die ewig selben Gesichter.
„Mein Gott, du siehst furchtbar aus.“ Sie ließ die Kostüme fallen und setzte sich neben Dally. „Was ist passiert?“
Was sollte er jetzt tun? Seinen Plan mit Liam konnte er vergessen. Wäre er aufgetaucht, wäre Rory noch am Leben. Doherty würde ihm sowieso die Schuld an allem geben. Und er hatte nichts außer Halbwahrheiten zu seiner Verteidigung.
„Rede mit mir, in Gottes Namen.“ Sandras Finger verkrallten sich in seinen Oberarmen, dann nahm sie ihm die Fernbedienung aus der Hand.
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