Wie Du Mir
dass ihm plötzlich all die Tränen in die Augen schossen, auf die er seit dem Training vergeblich gewartet hatte. Jetzt bloß nicht anfangen zu heulen. Er kannte sich. Wenn das einmal anfing, hörte es nicht mehr auf. Er presste sein Gesicht in ihre Haare, roch darin das Bratfett ihres Mittagessens und darüber einen Hauch von ‚Obsession‘, das er ihr in Ermangelung besserer Einfälle regelmäßig zum Muttertag schenkte. Geschenkt hatte. Vergangenheitsform nicht vergessen. Er löste sich von ihr, betrachtete ihr ungeschminktes Gesicht. Seit ihrer misslungenen Aussprache in Jenny’s Café vergangene Woche war es noch schmäler geworden. Ihre Augen hatten etwas von einem regnerischen Tag.
„Gut siehst du aus“, sagte er und erntete ein mattes Lächeln.
„Ach was, ich fühl mich furchtbar.“
Langsam ließen sie sich mit dem Menschenstrom treiben, aneinandergekettet durch Ben, der unberührt schien von all der Trauer um ihn herum. Seine Haare, zu Babyzeiten blond wie die seiner Mutter, näherten sich jetzt immer mehr Dallys Schwarzbraun an. Seine Hand in der von Dally war kräftiger, erwachsener als noch bei ihrer letzten Begegnung vor zehn Tagen. Bald war er kein Kind mehr, und Tage wie dieser würden den Prozess weiter beschleunigen.
„Wie geht’s dir, Großer? Passt du gut auf Ma auf?“
„Klar.“
Marie hatte Bens Schuluniform zum Traueranzug umfunktioniert. Sparen war eine ihrer großen Stärken, gepflegt über Jahre der Notwendigkeit.
„Wann kommst du mal wieder zum Fußballspielen, Dad?“
Marie streifte Dally mit einem warnenden Blick.
„Sind dir deine Cousins in Hillsborough nicht genug? Die spielen doch ständig.“
Ben grinste spitzbübisch.
„Ja, aber gegen die verlier’ ich immer.“
Das entlockte sogar Marie ein schwaches Lächeln.
„Verstehe, also muss dein Dad herhalten.“
Ben kicherte bestätigend, ließ sich aber nicht vom Hauptthema ablenken.
„Was ist mit morgen?“
Er sah Marie zu einem Einwand Luft holen.
„Zuerst müssen wir uns um Theresa kümmern, Ben. Ich komm so bald ich kann, vielleicht nächste Woche mal, okay?“, kam er ihr zuvor.
„Ach so.“ Ben zuckte schwach die Achseln.
Die friedfertige Reaktion seines Sohnes schürte Dallys schlechtes Gewissen zusätzlich. Angeblich hatten alle Eltern dieser Welt Schuldgefühle ihren Kindern gegenüber. Dally bezweifelte, dass sie so gerechtfertigt waren wie seine eigenen. Immerhin hatte nicht jeder Vater von der Zeugung seines Sohnes erfahren, während er auf seine Verurteilung wegen Waffenbesitzes wartete. Oder ihm fünf Jahre lang nur aus einem Meter Entfernung zuwinken können. Oder ihm verschweigen müssen, woher das Geld für seine Spielsachen stammte. Oder seine Frau mit seiner Gereiztheit und tagelangen Abwesenheit ohne Ankündigung so weit getrieben, dass sie über Nacht ihre Sachen gepackt hatte und ausgezogen war.
Er stand auf der Beerdigung seines besten Freundes, betrachtete Marie und Ben, der so beruhigend anders zu werden versprach als er selbst. Vielleicht war es noch nicht zu spät. Vielleicht konnte er noch ein paar richtige Entscheidungen treffen.
„Da seid ihr also.“ Die unverkennbar große Arbeitshand seines Vaters landete auf Dallys Schulter.
„Marie. Schön, euch mal wieder gemeinsam zu sehen. Bitte komm doch nachher bei uns vorbei. Maddy würde sich so freuen“, sagte er und tätschelte mit der linken Hand Maries Wange. Dallys Schulter schien er hingegen für einen dieser Schaumstoffbälle zu halten, die man zum Stressabbau benutzte. „Und du verschwinde gefälligst nach vorne. Ma sucht schon die ganze Zeit nach dir. Sie braucht unsere Unterstützung, und du treibst dich hier rum. Alle anderen sind längst da.“
Greg war immer ein Anhänger der erzieherischen Ohrfeige, Kopfnuss – oder was auch immer für Gehorsam nötig war – gewesen, und seit ihm seine Kinder über den Kopf gewachsen waren, teilte er sie meist verbal aus. Dally kam traditionell am häufigsten in den Genuss des väterlichen Jähzorns, dicht gefolgt von Seán. Sie entsprachen, jeder auf seine Weise, einfach zu wenig Gregorys Bild von Söhnen, auf die man stolz sein konnte.
Er antwortete mit einem angedeuteten militärischen Salut, zwinkerte Ben zu und bahnte ihnen einen Weg nach vorne, wo er den Rest seiner Familie vermutete, durch ein Gewimmel von schwarzen Anzügen und traurigen Gesichtern. Viele davon waren Dally geläufig.
Das Gebiet um die Falls Road war ein engmaschiges Netz aus Beziehungen –
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