Wie ein boser Traum
Herbst unbedingt zum Klassentreffen kommen. Zehn Jahre sind ein wichtiger Meilenstein.«
Zehn Jahre … klar, ein Meilenstein. Nur nicht so, wie er sich das vorstellte. Er sagte dann noch irgendetwas, und sie war sich ziemlich sicher, dass sie ihm noch eine Antwort über die Schulter zurief. Aber zurückblicken, das konnte sie nicht.
Lauf nicht. Geh. Setz einen Fuß vor den anderen. Sie war draußen, musste sich am Geländer festhalten, als sie die Stufen hinunterging, und ihre aufkommende Panik unterdrücken.
»Emily!«
Sie wollte gerade ins Auto steigen, als sie die bekannte Stimme hörte … aber sie wollte nur noch weg.
»Wusste ich doch, dass du es bist.« Jetzt ertönte die Stimme praktisch unmittelbar neben ihr.
Emily konnte nicht so tun, als hätte sie nichts gehört.
Sie wandte sich um und sah die Frau, die ihre Trainerin gewesen war. »Mrs. Mallory, wie geht es Ihnen?«
Justine Mallory verdrehte die Augen und lehnte sich gegen Emilys Auto. »Bitte, du bist doch keine Schülerin mehr; nenn mich Justine.«
»Justine«, verbesserte Emily sich und rang sich ein Lächeln ab.
Sei aufmerksam. Mach ihr ein Kompliment . Zehn Jahre waren vergangen, aber sie sah immer noch toll aus, wenn nicht noch besser als damals. Blonde Haare, tiefblaue Augen. Make-up wie immer perfekt. Lange, ein wenig muskulöse Beine und eine Figur zum Niederknien. Justine musste über vierzig sein, trotzdem sah sie fabelhaft aus. Die Bräune, die Shorts, das Pine-Bluff-High-T-Shirt,
in ihrem Dress wirkte sie mehr wie eine Schülerin und weniger wie eine Mathematiklehrerin.
»Sie sehen toll aus.« Das kam ein wenig hölzern heraus.
»Du auch.« Justine blickte sie forschend an. »Wo hast du eigentlich so lange gesteckt? Ich habe gelegentlich deine Eltern nach dir gefragt. Megan, Cathy und Violet haben erst vorgestern beim Friseur über dich gesprochen.«
»Ich hatte viel zu tun«, log Emily, räusperte sich und versuchte sich auszudenken, was sie sonst noch sagen könnte. Zum Beispiel, wie es den anderen ging. Während ihrer gesamten Schulzeit war sie Mitglied des Cheerleader-Teams gewesen – bis zu Heathers Tod.
»Du hast also endlich beschlossen, mal Urlaub zu machen und die große Stadt zu verlassen?«
Emily nickte. Wieder eine Lüge. Sie musste ganz schnell das Thema wechseln. »Wie läuft’s denn dieses Jahr mit der Truppe?«
Justine warf einen Blick auf die Mädchen, die auf dem Feld übten. »Die sind nicht so gut wie ihr früher. Aber es geht schon.« Einen Moment lang betrachtete sie Emily mit kritischem Blick. »Ach, falls ich es dir noch nicht gesagt habe – wir haben dich in jenem letzten Jahr vermisst.«
Darauf fiel Emily keine Antwort ein. Ohne Heather hätte sie im letzten Schuljahr nie im Cheerleader-Team mitgemacht.
Justin ergriff ihren Arm, drückte ihn. »Ich kann mir vorstellen, wie schwer das alles für dich gewesen sein muss.« Sie schüttelte den Kopf. »Man hätte ihn nicht auf Bewährung rauslassen dürfen.«
Der Ansturm der Gefühle war so groß, dass Emily mehrere Sekunden lang schwieg – lange genug, dass Justine von Dingen weitersprach, die Emily nicht hören wollte.
»Ich hätte die Verulk-Woche nicht erlauben sollen.« Justine wandte kurz den Blick ab. »Seit jenem Sommer haben wir so etwas nicht mehr veranstaltet.«
Emily stützte sich mit einer Hand am Auto ab, so unsicher fühlte sie sich auf den Beinen. Wenn sie in jener Nacht zu Hause geblieben wäre … wenn Heather im eigenen Bett gelegen hätte. »Sie konnten nichts dafür.«
»Du hättest dich nicht aus deinem Zimmer gestohlen und das Fenster unverschlossen gelassen. Mein Gott«, Justine schlang sich die Arme um den Leib, »ich hätte diese Tradition verbieten sollen, bevor jemand zu Schaden kam.«
Emily war an der Reihe gewesen. Die Rising Seniors sollten die Verulk-Woche leiten. So sah es die Tradition vor, wie Justine sagte. Die Mittelstufler erwarteten das. Niemand war je zu Schaden gekommen. Man spielte nur alberne Streiche, zum Beispiel den Garten des stellvertretenden Schulleiters platt walzen.
Niemand war zu Schaden gekommen. Bis zu jener Nacht.
Ihre Eltern hatten ihr eingeschärft, zu Hause zu bleiben, zusammen mit ihrem Bruder. Es war der Hochzeitstag ihrer Eltern gewesen; sie wollten ausgehen. Um Mitternacht wollten sie wieder zu Hause sein, aber das wäre zu spät gewesen. Mitternacht war Justine Mallorys strenger Zapfenstreich. Heather hatte sich bereiterklärt, bei Emily zu übernachten, nur für den Fall, dass
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