Wie ein boser Traum
Bewährungsausschusses, hatte angesprochen, dass es während des Prozesses keine wirklich stichhaltigen Beweise gegeben habe, und so hatte Emily fast zwanghaft immer wieder durchgespielt, woran sie sich bei jener Nacht erinnerte. Sie war sich absolut sicher, was passiert war. Sie war ja dort gewesen. Hatte es mit eigenen Augen gesehn. Und doch wollte irgendein dummer Teil in ihr nicht von den gefühllosen Aussagen lassen, die in der Verhandlung gemacht worden waren. Allerdings gab sie keine Sekunde lang zu, dass irgendetwas von dem, was Austin gestern gesagt hatte, bei ihrer Entscheidung, an diesem Morgen hierherzukommen, eine Rolle gespielt hatte.
Sie sollten Ihre Bemühungen lieber darauf verwenden, Miss Wallace , herauszufinden, wer in jener Nacht sonst noch in Ihrem Zimmer war und ob es nicht vielleicht Sie waren, auf die man es abgesehen hatte .
Emily verbannte Austins Stimme aus ihrem Kopf. Sie würde ihn nicht in sich hineinlassen. Seine Mutmaßung war völlig unbegründet. Wer hätte Heather denn etwas
antun wollen? Austin wollte bloß, dass sie es sich anders überlegte, vielleicht, damit sie ihn nicht mehr verfolgte.
Leider hatte Austin, so wie Jesse Lambert, mit Ersterem Erfolg gehabt.
Während Emily darauf wartete, dass die Klingel zur ersten Stunde läutete, zog sie einen Notizblock aus der Handtasche und kramte nach einem Kuli. Sie dachte über die Bewährungsauflagen nach, die sie aufgelistet hatte – angefangen von den leichtesten bis hin zu den schwersten Vergehen. Es war das Einzige, was sie erfahren und was ihr Hoffnung gegeben hatte. Jetzt musste sie nur noch Austins Aktivitäten überwachen und ihn auf frischer Tat ertappen. Vielleicht würde die fortgesetzte Überwachung ihn zu einem Fehler verleiten. Je früher, desto besser.
Viele Bewährungsauflagen waren recht allgemein gehalten. Austin musste alle Gesetze befolgen, absolut kein Drogen-, kein Alkoholkonsum. Keine Fahrten außerhalb von Jackson County ohne ausdrückliche Genehmigung. Jeder Waffenbesitz war verboten. Und er musste eine Therapie machen. Dass Letzteres geschah, konnte Emily nicht erkennen. Sie notierte sich, dies nachzuprüfen.
Sie hielt inne beim Schreiben, als ein Dutzend Mädchen aufs Football-Feld liefen. Sie hätte wissen müssen, dass das Cheerleader-Training nicht einfach aufhörte, nur weil das Schuljahr zu Ende war. Sie und Heather hatten den ganzen Sommer über täglich auf dem Platz trainiert. Als sie die vertraute Formation sah, das Skandieren hörte, beugte Emily sich vor – erinnerte sich an die Tage vor jener Nacht, als ihr Leben zu Ende gegangen war.
»Emily Wallace? Bist du’s?«
Sie wandte abrupt den Kopf. Schulleiter Call stieg gerade
aus dem Auto. Emily hatte gar nicht bemerkt, dass ein anderes Auto angekommen war.
Sie stieg hastig, wenn auch ungeschickt aus. »Ja.« Richtete sich auf und zupfte instinktiv am Saum ihrer Bluse.
Er hatte sich kaum verändert. Kräftig, groß gewachsen, glatzköpfig und ausgestattet mit der Fähigkeit, Gedanken zu lesen.
»Großer Gott, Emily, wie schön, Sie wiederzusehen.« Strahlend umarmte er sie. »Wie geht’s Ihren Eltern?«
»Gut, danke.« Außer dass sie sich Sorgen wegen ihrer Tochter machten. Emily wollte ihm eine Frage wegen der Nacht stellen, aber er kam ihr zuvor.
»Komm doch mit rein, ich will dir mal was zeigen, was du bestimmt noch nicht gesehen hast.«
Reinkommen? In die Schule? Das konnte sie nicht. Sie wollte nur kurz mit ihm sprechen; das konnten sie auch hier draußen.
»Sie haben sicher zu tun, Mr. Call, und ich wollte nur …«
»Unsinn. Komm mit.«
Er ging mit ihr zum Hauptgebäude, während sie noch nach einer Ausrede suchte, um sich verabschieden zu können. Seit dem Abschlussball hatte sie das Gebäude nicht mehr betreten, außerdem hatte sie an dieser sinnlosen Veranstaltung nur teilgenommen, um ihre Eltern glücklich zu machen. Niemand hatte verstanden, warum sie sich damals geweigert hatte, auf der Beerdigung ihrer toten besten Freundin eine Rede zu halten. Sie begriffen nicht, dass all die richtigen Worte sich tief in ihr verbargen, an einem Ort, an den sie nicht herankam.
Kaum im Gebäude, wäre sie am liebsten umgekehrt.
Aber Schulleiter Call drängte sie vorwärts. Er hatte in einem fort geredet, aber kein einziges Wort hatte die Barriere der Furcht überwunden, die ihre Gedanken vernebelte.
Der Geruch … die Gerüche, die sich nirgendwo fanden, außer in diesem Schulgebäude, erweckten einen Teil ihrer Gedanken, den sie
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