Wie ein boser Traum
hatte ihn gestern spät am Abend angerufen; sie war völlig durch den Wind gewesen und hatte gesagt, sie sei vom Gottesdienst heimgekehrt und habe Keith nicht vorgefunden, seitdem habe er weder angerufen noch sei
er nach Hause gekommen. Ray hatte sie beruhigt und geantwortet, sie solle sich keine Sorgen machen. Keith sei wahrscheinlich mit einem der Jungs losgezogen und habe vergessen, wie spät es ist. Es sei nicht das erste Mal, dass er und seine Kumpel etwas so Gedankenloses und Pubertäres täten. Wenn er an einem Fall oder einem Bericht arbeite, vergesse auch er hin und wieder, seine Frau anzurufen.
Am Morgen, um sechs Uhr, hatten die Arbeiter, die zur Frühschicht in den Steinbruch kamen, berichtet, sie hätten dort Keiths Leiche gefunden.
Ray war den ganzen Vormittag dort gewesen, zusammen mit den Forensikern vom Alabama Bureau of Investigations. Keiths Leiche war zur Autopsie abtransportiert worden. Es war ziemlich klar, woran er gestorben war, dennoch waren noch ein paar Dinge zu klären. Ob es einen Kampf vor dem Sturz gegeben hatte oder nicht. Ob Drogen, Alkohol im Spiel waren. Dinge, mit denen Kleinstadt-Polizeichefs wie Ray sich normalerweise nicht befassen mussten.
Nicht seit dem Mord an Heather Baker.
Ray kam gerade von Violet.
Er setzte sich hinter den Schreibtisch und stützte das Gesicht in die Hände. Seit Clints Entlassung hatte sich alles auf diese Katastrophe zubewegt. Angesichts der nervösen Anspannung, die in der Stadt herrschte, kam die Prügelei am Samstagabend gar nicht überraschend.
Ray hatte Mike Caruthers losgeschickt; er sollte Clint von der Autowerkstatt abholen und zur Vernehmung aufs Revier bringen. Es widerstrebte Ray, aber ihm blieb nichts anderes übrig. Die ganze Stadt würde in Clint den Hauptverdächtigen sehen. Verdammt, jeder Polizeichef,
der etwas taugte, wäre ein Idiot gewesen, wenn er das nicht getan hätte.
Außer dass Ray Dinge wusste, die niemand sonst wusste.
Troy und seine Kumpel wurden ebenfalls einbestellt. Alle auf Violets Party hatten über die Spannungen zwischen Troy und Keith geredet. Normalerweise wusste Troy jederzeit, wo Keith sich aufhielt. Violet hatte ausgesagt, sie habe Troy gestern Abend angerufen, und der habe behauptet, nicht zu wissen, was Keith vorhabe. Klang in Rays Ohren verdammt verdächtig.
Das war ja das Problem. Wenn ein reicher Junge wie Keith als vermisst gemeldet wurde, machten sich alle gleich Sorgen, es könnte sich dabei um Kidnapping mit Lösegeldforderungen handeln. Manchmal gingen Entführungen auch schief. Aber ein Bauchgefühl sagte Ray, dass es hier nicht um Geld ging. Sondern um die Vergangenheit.
Vor dem Büro erklangen laute Stimmen. Ray sah hoch. Die Tür flog auf, und Granville Turner stürmte herein, Mary Alice folgte dichtauf und versuchte angestrengt, ihn davon abzuhalten, den Chef zu stören.
Zu spät.
»Ist schon gut, Mary Alice.«
Sie nickte, schloss die Tür und ging.
»Im Moment kann ich Ihnen nichts anderes mitteilen, Granville.« Ray erhob sich – Granville tat ihm ungeheuer leid. Trotz der enormen Kluft zwischen ihnen beiden empfand Ray doch Mitgefühl für ihn.
Granville baute sich vor Rays Schreibtisch auf und hätte sich auch nicht gesetzt, wenn er dazu aufgefordert worden wäre. »Sie können es mir sagen, wenn Sie Clint
Austin schon eingebuchtet haben. Ich möchte wissen, ob der Mistkerl ein Alibi hat.«
»Mike holt ihn gerade her. Ich werde ihn vernehmen, ebenso wie jeden, der regelmäßig mit Keith verkehrt und vielleicht irgendeine Idee hat, was er da im Steinbruch zu suchen hatte.«
»Austin ist schuldig«, sagte Granville, mit noch lauterer Stimme als üblich. »Ich weiß es. Ich will, dass Sie den Dreckskerl einlochen, Ray; egal wie.«
»Ich vernehme ihn wie jeden anderen, der für diesen Fall von Bedeutung ist.«
»Sie haben mir zugesagt, dass Sie sich um die Sache kümmern.« Granvilles Augen glitzerten vor ungeweinten Tränen. »Dass ich mir wegen nichts Sorgen machen müsse. Aber jetzt ist mein Sohn tot.« Er schüttelte drohend einen Finger und zwinkerte alle Anzeichen seiner Verletztheit weg. »Sie stehen in meiner Schuld, Ray Hale, mit allem Drum und Dran; vergessen Sie das nicht. Ich habe gesehen, wie Sie aufgestiegen … Polizeichef geworden sind. Sie schulden mir was.«
Das traf mehr zu, als Ray lieb war, aber er wusste auch ein paar Dinge. Dinge, die Granville wieder ein wenig auf den Boden zurückholen könnten; aber das musste jetzt warten. Dies hier war zu persönlich
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