Wie ein dunkler Fluch
Lichtgeschwindigkeit anstieg. »Wir müssen zurück ins Büro.«
»Sagen Sie mir, dass es keine neue E-Mail gibt.«
»Es gibt keine neue E-Mail.« Ihre Hand am Handy fühlte sich schlaff an. Die Nachricht würde ihm nicht gefallen.
»Worum zum Teufel geht’s, Grace?«
Sein meist großspuriges Gebaren war verschwunden; jetzt klang er kalt und ungeduldig.
»Um halb sechs heute Abend hat WKRT eine Geschichte über Sie gebracht, die alle Sender übernommen haben. Worth hat es vor zwei Stunden herausgefunden; seither betreibt er zusammen mit Quantico Schadensbegrenzung. Er will uns briefen, sobald wir …«
»Was für eine Geschichte?«, wollte McBride wissen. »Ich will die nicht aus Worths Munde hören. Sondern von Ihnen.«
Vivian wappnete sich gegen seine Reaktion. »Eine anonyme Quelle hat Details geliefert, wonach Sie in dem Fall Braden Recht hatten und Ihr Vorgesetzter, Andrew Quinn, Unrecht. Einige der Einzelheiten waren direkt Ihrem Bericht entnommen. Der ursprünglichen Fassung,
nicht der zur Veröffentlichung freigegebenen.« Sie schluckte den bitteren Geschmack im Mund hinunter. »Vor einer Stunde ist Derrick Braden zu Quinn nach Hause gefahren und hat ihn mit einem Kopfschuss getötet und anschließend sich selbst.«
Schweigen.
Weil sie so nahe neben ihm stand, entgingen ihr nicht die Fassungslosigkeit und der Schrecken, die sich im schwachen Mondlicht in seinen Gesichtszügen spiegelten.
Vivian konnte sich nur vorstellen, wie oft Braden die letzten Tage vor dem Mord an seinem Sohn immer wieder in Gedanken durchgespielt hatte. Wie oft hatte er sich gefragt, was er hätte anders machen sollen? Was hätte das Bureau anders machen müssen? Jetzt kannte die Welt einige der Antworten auf diese letzte Frage, und Derrick hatte damit nicht leben können.
McBride schüttelte den Kopf. »Braden hätte nicht …«
»Er hat es.«
»Aber …«
»Wir müssen uns anziehen und reingehen.« Sie drehte sich um, fühlte sich merkwürdig steif. Wie in einem Traum.
»Warten Sie.« Er packte sie am Arm. »Was hat Worth noch gesagt?«
Das würde dem Ganzen nur die Krone aufsetzen. Am besten, er erfuhr es von Worth selbst.
»Was?«, fragte er nach.
»Direktor Stone hat angerufen.« Sie musste ihm nicht erklären, dass Stone derzeit der Direktor des Federal Bureau of Investigation war. McBride wusste es sicherlich. Jeder, der Fox News oder CNN sah, wusste es.
»Und?«
»Er will, dass das Bureau sich von Ihnen trennt und Sie in diesem Fall nicht weiterermitteln.«
13
23.30 Uhr
Es war sehr betrüblich.
Sehr, sehr betrüblich.
Martin wechselte zu einem der anderen 24-Stunden-Nachrichtensender. Das konnte doch nicht stimmen. Und doch: Auf allen Kanälen lautete die Eilmeldung:
Nach drei Jahren übt ein verzweifelter Vater nach unorganisiert und inkompetent durchgeführten Ermittlungen Vergeltung.
Nein, nein, nein, nein. Das hätte einfach nicht passieren dürfen. In Martins sorgfältigem Plan gab es keinen Platz für eine derartige Abweichung. Sein Ziel war nicht der Tod. Er war kein Mörder – anders als einige, die er als Beteiligte an seinen Plänen ausgewählt hatte.
Aber das war nicht das Schlimmste. Er hatte nämlich auch erfahren, dass die auf Dienstag angesetzte Veranstaltung auf Montag vorverlegt worden war. Das ging einfach nicht. Das Timing war entscheidend.
Martin ging unruhig im Zimmer umher. Er nahm die Zeitung in die Hand, faltete sie penibel und legte sie auf den Tisch neben seinem Sessel, dann zupfte er die Überdecken
zurecht, die seine Frau für die Lehnen gehäkelt hatte.
Er hatte jede Eventualität sehr sorgfältig geplant. Es gab absolut keine Frustrationstoleranz. Die genaue Berechnung jedes Schritts und die Abwägung der möglichen Auswirkungen, das war entscheidend. Er hatte zahllose Kriminalfälle eingehend studiert, er kannte alle entscheidenden Schritte. Hatte Hunderte von Fällen in den Fernsehnachrichten und in den Zeitungen verfolgt. Am liebsten Dokudramen. Er wusste, wie dergleichen ablief. Seine Planungen waren so sorgfältig gewesen – warum jetzt eine solche Abweichung?
In den Nachrichten wurden Fotos von Quinn und Braden gezeigt.
Warum das?
Drei Jahre! Wenn der arme Mann in drei Jahren keine Vergeltung geübt hatte, warum dann jetzt? Martin hatte sich die Interviews mit Derrick Braden im ersten Jahr nach dem Tod seines Sohnes angeschaut. Der Mann war kein Trottel. Er hatte sicherlich geahnt, dass das Bureau in irgendeiner Hinsicht versagt hatte. Das hätte Martin
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