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Wie ein Flügelschlag

Wie ein Flügelschlag

Titel: Wie ein Flügelschlag Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jutta Wilke
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lag. Namensschildchen oder Hausnummern
am Eingang hatten die Bewohner dieser Gegend offensichtlich
auch nicht nötig, sodass ich jedes Mal absteigen und das Rad ein
Stück schieben musste, nur um herauszufinden, dass ich wieder
vor dem falschen Haus stand.
    Mel hatte die Einladung zum Abendessen tatsächlich ernst gemeint.
Zwei Tage lang hatte ich mich gar nicht getraut, sie noch
mal darauf anzusprechen. Und als sie mich dann heute Morgen
fragte, ob ich nicht wirklich Lust hätte, mal vorbeizukommen,
wurde ich auf einmal schrecklich nervös.
    »Bitte«, hatte sie gesagt, »ich würde mich echt freuen. Und
meine Eltern sind einverstanden, dass ich dich einlade.« Erst
wollte ich Nein sagen. Ich hatte Melanies Vater zwei- oder dreimal
an unserer Schule gesehen und fand ihn unsympathisch.
Und alles, was ich sonst noch so von ihm mitbekommen hatte,
machte nicht gerade Lust darauf, ihm persönlich zu begegnen.
Ihre Mutter kannte ich gar nicht, sie hatte sich noch nie auf dem
Schulgelände blicken lassen.
    Mel musste mir meine Unentschlossenheit angesehen haben,
denn sie lachte und klopfte mir beruhigend auf die Schulter.
    »He, entspann dich. Ich dachte einfach, es könnte nett sein
für dich, mal was anderes zu essen als diesen ewig gleichen Mensafraß.
Außerdem würde ich mich wirklich über deinen Besuch
freuen.«
    Ich sagte zu. Nicht wegen des Mensaessens, das war okay,
sondern weil ich mich auch freute. Das zwischen Mel und mir
fühlte sich einfach gut an.
    Über Melanies überstürzten Aufbruch aus dem Café hatten
wir kein Wort mehr verloren. Auch hier verstanden wir uns
wortlos. Mel wollte nicht über ihr Zuhause sprechen, und es fiel
mir leicht, das zu akzeptieren. Schließlich ging es mir genauso.
Umso mehr freute ich mich über ihre Einladung, denn sie zeigte
mir, dass Mel mir vertraute.
    Als ich das Haus, in dem Mel mit ihrer Familie lebte, endlich
gefunden hatte, war ich bereits halb erfroren. Ich stieg vom Rad
und schob es zu dem großen Eingangstor auf der gegenüberliegenden
Straßenseite.

    Es war so still hier. Ungewohnt still. Der Weg unter meinen
Füßen knirschte bei jedem Schritt. Das Knirschen hallte in meinem
Kopf wider. Da, wo ich herkam, waren immerzu irgendwelche
Geräusche. Autohupen, die Straßenbahn, Stimmen, schreiende
Kinder, laute Musik aus einem der zahlreichen Fenster.
    Hier war nichts. Nur Stille.
    Ich ließ den Blick über den Garten schweifen, der kein Garten
war, sondern ein Park. Ein ruhiger, friedlicher Park, dessen
Grenzen in der Dämmerung kaum auszumachen waren. Das einzige
Geräusch machten meine Turnschuhe auf dem nassen Kies.
Knirsch, knirsch, knirsch. Mein Fahrrad hatte ich von innen an
den hohen Zaun geschlossen. Es sah schäbig aus, wie es da so
rostig an den glänzenden schwarzen Metallstangen lehnte.
    Das Haus ließ mich die Luft anhalten. Eine riesige Villa mit
hohen Fenstern hinter schmiedeeisernen Gittern. Zu hoch, um
hineinzuschauen, aber vermutlich hatte man von drinnen einen
Blick über die ganze Hofeinfahrt. Ich stellte mir vor, wie Mel
und ihre Familie mir zuschauten, während ich auf das Haus zulief,
und sofort kam meine Nervosität zurück. Plötzlich war es
mir unangenehm, dass ich einfach eine Jeans angezogen hatte.
Dass ich in meinem Kleiderschrank außer den Jeans nur noch
ein paar Jogginghosen hatte, daran dachte ich überhaupt nicht.
    Ich sah mich in meinem grünen Parka, von dem das Wasser
tropfte, und mit meinen Turnschuhen, die im Schneematsch versanken.
Kurz überlegte ich, wieder umzukehren, als ich Melanies
Gesicht hinter einer der Gardinen entdeckte. Zu spät. Ich hatte
bereits die Treppe erreicht, die breit und geschwungen zur Haustür
führte. Rechts und links gesäumt von großen Buchsbaumkugeln
in gigantischen Blumenkübeln. Auf den immergrünen
Blättern lag Schnee. Unter einem Carport parkte ein schwarzer
Mercedes neben einem riesigen weißen Geländewagen. Von
Autos verstehe ich nicht viel, aber ich war mir sicher, dass hier
mehr Geld auf dem Hof rumstand, als ich je besitzen würde.
    Melanie riss die Haustür auf, bevor ich die Klingel berührt
hatte. Das ersparte mir mein übliches Gestammel, in das ich
immer ausbrach, wenn ich mich fremden Menschen vorstellen
sollte.
    »Da bist du ja endlich!« Sie packte mich am Arm und zog
mich ins Haus. »Ich dachte schon, du hättest es dir anders überlegt.
« Mel ahnte ja nicht, wie kurz ich davor gewesen war, genau
das zu tun.
    Sie bugsierte mich durch eine riesige Diele, dann hielt sie

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