Wie ein Flügelschlag
mir
einen Kleiderbügel hin. »Beeil dich, wir wollen gleich essen.
Mein Vater hasst Unpünktlichkeit.« Schon riss sie mir den
Parka aus den Händen, musterte kurz meine Jeans und schob
mich weiter.
Melanie stieß eine Tür auf und ich schloss geblendet die
Augen. Offensichtlich hatten alle nur auf mich gewartet. Die Familie
saß um einen großen ovalen Tisch versammelt, das Abendessen
stand bereit und in einem silbernen Leuchter brannten
sogar Kerzen.
»Darf ich vorstellen: meine Mutter, mein kleiner Bruder
Mika und mein berühmter Vater Doktor Klaus Wieland, stellvertretender
Leiter und sicher bald Chef des städtischen Klinikums.
Über ihm thront nur Gott.« Der Sarkasmus tropfte aus
Melanies Mund wie der Schnee von meinen nassen Turnschuhen.
»Und das hier ist Jana Schwarzer, eine echte Konkurrenz.«
»Hi, Jana, schön, dich kennenzulernen.« Melanies Bruder
winkte mir zu. Seine Augen leuchteten blau und grün zugleich.
Meeresaugen, schoss es mir durch den Kopf.
Überrascht registrierte ich, dass ich mich fast augenblicklich
zu ihm hingezogen fühlte. Kleiner Bruder, hatte Mel gesagt. Obwohl
Mika sitzen geblieben war, konnte ich erkennen, dass er
mindestens einen Kopf größer als sie sein musste.
»Hallo, Mika, ich freue mich auch.«
Reiß dich zusammen, Jana, wo sind deine guten Manieren
geblieben? Ich machte ein paar Schritte zu Melanies Mutter hinüber
und reichte ihr die Hand. »Vielen Dank für die Einladung,
Frau Doktor Wieland.«
Sie saß da auf der Kante ihres Stuhls, als wollte sie jeden Moment
davonlaufen. Nervös strich sie mit ihrer freien Hand ein
paar blonde Strähnen aus ihrem Gesicht.
»Wieland, einfach nur Wieland reicht. Wir haben nur einen
Doktor in der Familie.« Sie sprach so leise, dass ich sie kaum
verstehen konnte. Wie ein toter Vogel lag ihre Hand in meiner,
leblos und leicht. Und so kalt.
Schnell wandte ich mich Melanies Vater zu. Er trug ein weißes
gebügeltes Poloshirt zur weißen Jeans. Ein Halbgott in Weiß.
Seine rotblonden Haare waren so kurz, als sei er gerade aus der
Armee entlassen worden. Sein Hemdkragen spannte über seinem
Nacken. Man sah ihm den ehemaligen Leistungssportler
immer noch an.
Obwohl Melanies Vater lächelte, schaute er mich an wie etwas,
das man versehentlich neben die Mülltonne geworfen hatte.
»Guten Abend und vielen Dank für die Einladung.«
»Gern geschehen. Komm, setz dich, damit wir anfangen können.
Ich freue mich schon darauf, von dir alles über die Schule
und das Training zu erfahren. Melanie erzählt uns viel zu wenig.«
Doktor Wieland wies auf einen Platz ihm gegenüber. Ich ließ
mich auf den Stuhl gleiten, Mel nahm rechts von mir Platz. Zu
meiner Linken saß ihre Mutter und zwischen den Eltern ihr
Bruder Mika. Schweigend fing Melanies Mutter an, zuerst eine
Schüssel mit Salat und dann eine Platte mit kaltem Braten herumzureichen. Mel hatte recht. Das war wirklich mal eine nette
Abwechslung zu dem ewig gleichen Essen in der Mensa.
»Ich find's schön, dass du hier bist. Melanie bringt so selten
jemanden aus der Schule mit.« Mika fischte mit den Fingern
eine Olive aus dem Salat und schob sie sich in den Mund.
»Mika, was soll das? Benimm dich!«
Mika fuhr sich mit der Hand durch seine blonden Locken
und lachte nur. Dann zwinkerte er seinem Vater zu, sodass dieser
ebenfalls lachen musste.
So streng, wie Melanie immer behauptete, schien er doch
nicht zu sein.
»Du musst schon entschuldigen, Jana. Mein Sohn ist manchmal
einfach unmöglich.« Doktor Wieland reichte mir den Brotkorb
und Mika grinste mich an. Ich hätte gerne gewusst, wie alt
er war.
»Warum bist du nicht auf dem Internat?«, fragte ich ihn stattdessen.
»Ich?« Wieder dieses freche Lachen. »Weil ich schwimme
wie eine Bleiente. Das sportliche Talent in unserer Familie hat
meine süße Schwester ganz allein geerbt.«
Ich schaute zu Melanie, die eine Scheibe Weißbrot mit Butter
bearbeitete, als wollte sie das Brot zerstückeln.
»Ja, Melanie ist der große Star an unserer Schule«, beeilte ich
mich zu versichern.
»Ach, lass doch«, murmelte Mel und rutschte noch ein
Stückchen tiefer.
»Ein bisschen weniger Star und ein bisschen mehr Ehrgeiz
würden ihr nicht schaden.« Ungerührt biss Wieland von seinem
Brot ab.
Ich sah, wie Melanies Mutter neben mir zusammenzuckte.
»Zu meiner Zeit haben wir trainiert, trainiert, trainiert. Außer
der Schule und dem Training gab es da nichts.«
Ich ahnte, dass ihr Vater auf die Theater-AG anspielte, und
wollte Melanie
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