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Wie ein Flügelschlag

Wie ein Flügelschlag

Titel: Wie ein Flügelschlag Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jutta Wilke
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wichtig!
Mel?«
    Sie hatte aufgelegt. Ich starrte mein Handy an. Mel hatte einfach
mitten im Gespräch aufgelegt.
    »Verdammt noch mal!« Wütend schmiss ich mein Handy auf
den Küchentisch. Ich ging zum Fenster und starrte auf die Straße.
Der Schnee hatte sich in grauen Matsch verwandelt. Überhaupt
sah von hier oben alles grau aus. Die Häuser, die Straße, selbst
die wenigen Menschen, die vorüberliefen, waren grau. Trugen
graue Jacken zu grauen Gesichtern. Die paar Bäume, die hier
standen, waren ebenfalls grau. Ich presste meine Stirn gegen die
kühle Scheibe und dachte an die glänzenden Silberbäume im
Wald. Hier war nichts von ihnen zu sehen, es war, als ob auch sie
zu einer anderen Welt gehörten.
    Ich stand noch am Fenster, als ich meine Mutter zurückkommen
sah. Sie schleppte zwei Taschen und schaute nicht nach
oben, als sie das Haus betrat. Wie klein sie von hier oben wirkte.
Ganz winzig. Und sehr allein. Wieder packte mich das schlechte
Gewissen, aber noch während sie die Einkäufe nach oben trug,
wusste ich, dass ich auch diesmal nicht bleiben konnte. Sie tat
mir leid, aber sie nahm mir die Luft, die ich zum Leben brauchte.
    »Meine Mutter trug ihre Taschen in die Küche und stellte sie
auf dem Tisch ab. Wir sprachen kein Wort, während ich ihr
dabei half, die Einkäufe zu verstauen. Als wir damit fertig waren,
griff sie zu einer neuen Packung Zigaretten, fummelte die Folie
ab und nahm sich eine heraus. Sie zuckte nur entschuldigend
mit den Schultern, als sie meinen Blick bemerkte, und zündete
die Zigarette an. Nach einem tiefen Zug ließ sie sich auf einen
Küchenstuhl sinken.
    Ich setzte mich ihr gegenüber und beobachtete sie. Ich hätte
ihr so gerne alles erzählt, hätte gerne einen Rat von ihr bekommen.
Verdammt noch mal, sie war meine Mutter. Wer sollte mir
denn Ratschläge geben, wenn nicht sie?
    Sie nahm einen weiteren tiefen Zug, dann öffnete sie den
Mund, um etwas zu sagen. Aber sie sagte nichts. Sie öffnete den
Mund einfach nur und schloss ihn dann wieder. So als ob sie
Angst hätte, das Falsche zu sagen. Und vermutlich wäre auch
alles das Falsche gewesen.
    »Wie läuft das Training?«, quetschte sie schließlich doch
noch heraus, und ich sah, wie schwer ihr das fiel.
    »Gut«, log ich mit einer Leichtigkeit, die mich fast erschreckte.
Ich hatte mich schon lange daran gewöhnt, ihr nur
das Nötigste zu erzählen. Viel zu lange.
    »Mhm.« Sie zog wieder an der Zigarette.
    Ich rutschte auf meinem Stuhl hin und her. Über den Küchentisch
krabbelte eine Fliege. Ich fragte mich, wo wohl mitten
im Winter eine Fliege herkam, und beobachtete, wie meine
Mutter langsam die Hand hob. Dann knallte sie auf den Tisch.
Die Fliege schwirrte gegen das Fenster.
    »Ich hab Stress mit meinem Trainer«, begann ich vorsichtig.
    Meine Mutter zog die Augenbrauen hoch. »Stress? Was für
Stress?«
    »Er will, dass ich bei einem Sichtungsschwimmen nächste
Woche absichtlich langsamer schwimme als Melanie.«
    »Absichtlich? Wozu soll das gut sein?« Sie zog noch einmal
an ihrer Zigarette, dann schnippte sie den Rest in die Spüle.
    »Keine Ahnung. Er will einfach, dass Melanie gewinnt.«
    »Und? Lässt du sie gewinnen?«
    »Nein. Das heißt, ja. Vielleicht. Ich weiß einfach nicht, was
ich tun soll.«
    »Was kriegst du dafür?«
    »Wie bitte?« Ich starrte meine Mutter an.
    »Na, wenn er will, dass du absichtlich langsamer schwimmst,
was zahlt er dir dafür?«
    »Nichts! Er zahlt mir nichts dafür!«
    »Dann lass es. Wenn er will, dass du Melanie gewinnen lässt,
sollte er ordentlich dafür zahlen.«
    »Mama, es geht nicht darum, dass er mir etwas zahlen soll. Es
geht darum, dass ich vielleicht mein Stipendium verliere, wenn
ich nicht mitspiele!«
    Meine Mutter angelte nach einer weiteren Zigarette.
    »Ich habe dich vor diesen Leuten gewarnt. Es gibt nichts geschenkt
im Leben. Auch ein Stipendium nicht. Du kannst jederzeit
wieder hier wohnen, das weißt du.«
    Ich sprang auf.
    »Ich will aber nicht zurückkommen. Das Stipendium ist eine
einmalige Chance für mich, wann begreifst du das endlich?«
    Sie zuckte nicht einmal mit der Wimper, sondern zog nur ungerührt
an ihrer Zigarette. Der Qualm fing an, mir im Hals zu
brennen.
    »Dann sag ihm, dass es ihn was kostet, wenn du absichtlich
langsamer schwimmst. Schau dich doch um!« Sie machte mit
der Hand eine Bewegung, die die ganze Küche einnahm. »Wir
könnten ein bisschen Geld gebrauchen.«
    Ich schnappte nach Luft.
    »Du meinst, DU könntest ein bisschen Geld

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