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Wie ein Flügelschlag

Wie ein Flügelschlag

Titel: Wie ein Flügelschlag Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jutta Wilke
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gebrauchen«,
fuhr ich sie an und wischte die Schachtel mit den Zigaretten
vom Tisch.
    »Wenn ich
wir
sage, dann meine ich auch
wir
! Du siehst doch,
dass diese Schule nichts taugt. Kassier noch die Kohle und dann
komm endlich wieder zurück.«
    »Es. Gibt. Keine. Kohle.« Ich presste die Lippen aufeinander,
um nicht zu schreien. Stattdessen ging ich zur Waschmaschine
rüber und zerrte meine nassen Klamotten aus der Trommel. Ich
stopfte sie erst in eine Plastiktüte und dann zurück in meinen
Rucksack.
    »Was machst du da eigentlich?« Meine Mutter war jetzt auch
aufgestanden.
    »Ich packe meine Sachen. Ich gehe.«
    »Du gehst?« Sie klang plötzlich ganz schrill. »Aber du kannst
nicht gehen. Du bist doch gerade erst gekommen. Die Wochenenden
verbringst du zu Hause, so hatten wir es abgemacht.«
Ihre Stimme überschlug sich jetzt.
    Einen Augenblick lang standen wir schweigend voreinander.
Ich wusste, sie wartete darauf, dass ich nachgab, dass ich meine
nassen Sachen wieder auspackte, sie ins Bad brachte und aufhängte.
Dass ich einsichtig war und Mitleid zeigte. Aber ich
konnte nicht. Ja, sie tat mir leid. Das tat sie immer, wenn sie so
hilflos war. Und ich hasste es, mit meiner Mutter zu streiten. Es
war ganz klar: Ich steckte fest. Zwischen meinem Wunsch nach
Harmonie und meiner Sehnsucht nach Freiheit. Ich wusste,
wenn ich jetzt nachgab, würde sie das, was sie für Liebe hielt,
wieder um mich legen wie eine Schlinge und zuziehen. Ihre Besorgnis,
die eigentlich nichts war als ihre Angst vor dem Alleinsein,
würde sich anfühlen wie ein Ring aus Eisen und mir die
Luft abschnüren.
    Sie schaute mich ungeduldig an, knibbelte mit ihren Fingern
an der Zigarette herum.
    »Ich kann nicht bleiben«, sagte ich und schaute an ihr vorbei.
»Es geht nicht. Ich muss zurück und das mit Drexler klären.« Das war eine Ausrede. Schließlich wusste ich ganz genau,
dass Drexler heute überhaupt nicht im Internat war. Aber ich
brauchte diese Ausrede, weil ich zu feige war, ihr die Wahrheit
ins Gesicht zu sagen. Dass ich zurückmusste, weil es mir bei ihr
zu eng wurde.
    Sie ließ die Arme sinken, Tränen traten ihr in die Augen. Ich
bemühte mich, nicht hinzusehen. Ich ging in den Flur, nahm
meine Winterjacke vom Haken, schlüpfte hinein und schulterte
den Rucksack.
    »Okay, ich geh dann.« Ich schaute nicht mehr zurück. Es
reichte, ihren Blick im Rücken zu spüren.
    »Jana, lass mich nicht allein.«
    Ich zog die Tür hinter mir ins Schloss und rannte die Treppen
nach unten. Erst auf dem Hof blieb ich stehen und holte tief
Luft. Ich musste mich zwingen, nicht nach oben zu sehen, zum
Küchenfenster. Seufzend richtete ich den Blick auf die Straße
und lief zur Bushaltestelle. Ich fühlte mich wie der schlechteste
und mieseste Mensch auf diesem Planeten.

    Im Wohntrakt hängte ich meine Sachen zum Trocknen auf und
holte meinen Badeanzug. Das Schwimmbad war, genau wie die
Sporthalle, auch am Wochenende geöffnet. Als ich die Halle betrat,
war das Becken leer. Ich ließ mich ins Wasser gleiten, stieß
mich vom Rand ab und schwamm.
    Anfangs fühlte sich mein Körper an wie Blei, jeder Kraulzug
schmerzte in den Schultern und ich bekam die Arme kaum aus
dem Wasser. Ich schwamm weiter. Der letzte Satz meiner Mutter
gab mir den Rhythmus vor. Lass mich nicht allein. Lass mich
nicht allein. Lass mich nicht allein.
    Nach ein paar Bahnen wurden meine Arme lockerer, ich
spürte wieder die Kraft, wenn ich mich im Wasser nach vorne
zog, fühlte die Muskeln in meinen Beinen, vergaß den Beckenrand,
nahm die Wende kaum wahr und atmete nur nach jedem
fünften oder sechsten Armzug. Ich wurde mit jeder Bahn leichter.
Bis ich endlich wieder abhob und flog.

Etwas war passiert.
    Er wusste nicht, was es war, aber etwas hatte sich verändert.
    Die Kälte lag nicht länger nur in der Luft. Sie kam jetzt auch von
innen. Und sie führte dazu, dass zwei nicht mehr miteinander sprachen,
die sich doch eigentlich ergänzten. Wie Yin und Yang bildeten
sie eine Einheit. Das eine würde ohne das andere zugrunde gehen.
Niemand wusste das besser als er.
    Aber es war noch zu früh einzugreifen.

»Melanie!«
    Sie drehte sich nicht einmal nach mir um, sondern bückte
sich und band ihre Schnürsenkel fester. Die anderen umringten
sie wie eine Mauer. Eine Mauer aus stummen verkniffenen Gesichtern,
die mich anstarrten.
    Ich blieb direkt vor Bea stehen. Ich konnte die weißen Atemwolken
sehen, die stoßweise aus ihrem Mund kamen. Melanie
hatte sich inzwischen wieder

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