Wie ein Flügelschlag
bist, dass nicht
du es warst, die sie umgebracht hat.«
»Das ist nicht dein Ernst!« Mir wird übel, und ich habe
Angst, mich übergeben zu müssen.
»Seit du da bist, hat Melanie trainiert wie verrückt«, mischt
sich jetzt wieder Jonas ein. »Vorher war sie ehrgeizig, aber normal.
Erst seitdem du sie im Training dauernd in Grund und
Boden schwimmen musstest, fing sie an, wie wild zu trainieren.
Sogar die Theater-AG hat sie dafür geschmissen!« Seine
Stimme bricht weg.
»Aber das hatte doch nichts mit mir zu tun. Ihr Vater hatte
ihr die Theater-AG verboten!« Ich drehe mich im Kreis wie ein
Tier in der Falle. »Das wisst ihr doch alle! Sie hat es euch doch
oft genug gesagt!«
»Du hast sie umgebracht. Ohne dich würde Melanie noch
leben!«
Fassungslos starre ich Nora an.
»Okay, das reicht jetzt!«
Bernges kommt durch die Tür. Nora wird blass und schlüpft
auf ihren Platz. Genauso wie die anderen. Nur ich stehe mitten
im Raum und kämpfe mit der Übelkeit.
»Möchtest du an die frische Luft?«
Die Besorgnis in Bernges' Stimme treibt mir die Tränen in die
Augen. Ich schlucke die aufsteigende Galle hinunter und schüttele
den Kopf.
»Danke, nein, es geht schon.« Ich hebe meinen Rucksack auf
und setze mich auf meinen Platz.
»Das, was hier gerade gelaufen ist, will ich nie wieder von
euch hören.« Bernges baut sich mit seinem Rollstuhl vor der
Klasse auf. Während er spricht, lässt er seinen Blick langsam von
einem zum anderen wandern.
»Weder Jana«, er schaut zu mir, »noch irgendjemand sonst
von euch ist an dem tragischen Unglücksfall schuld, der Melanie
Wieland das Leben gekostet hat.«
Ein Raunen geht durch die Klasse.
»Ihr alle seid Leistungssportler. In den Augen der Welt da
draußen«, sein Blick geht zum Fenster, »ist das, was ihr hier
leistet, nicht normal. Nichts davon. Ihr lasst euch wöchentlich
wiegen, notiert nach dem Wachwerden euren Ruhepuls, ihr
lasst euch vorschreiben, wie viel ihr essen und was ihr trinken
sollt. Eure Freizeit ordnet ihr eurem Training unter. Nächt liche
Partys, Ausflüge am Wochenende, das alles gibt es für euch
nicht, denn für euch zählt nur eins: euer Sport.« Bernges macht
eine kurze Pause. »Ihr richtet euer gesamtes Leben nach einem
einzigen Ziel aus: noch schneller, noch besser, noch stärker zu
werden. Melanie war nicht anders als ihr. Sie hatte ein großes
Ziel, für das sie gekämpft hat. Sie hatte einfach nur das Pech,
dass ihr Körper diesem Druck nicht standgehalten hat. Wenn
ihr irgendetwas für eure tote Mitschülerin tun wollt, dann achtet
auf euren Körper. Behandelt ihn gut, nehmt Rücksicht auf seine
Bedürfnisse.« Wieder schaut Bernges zu mir. Und fügt dann
leise hinzu: »Denn er ist das Kostbarste, das ihr habt.«
Betroffenes Schweigen folgt seinen Worten. Keiner traut sich,
dem Mann im Rollstuhl zu widersprechen.
Beim Betreten des Parks überfällt mich für einen Moment das
Gefühl, ein zweites Mal auf dem Friedhof zu stehen. Die Kieswege,
die hohen Bäume, fast ist es, als könnte ich auch die Grabsteine
sehen, die den Rand säumen. Ob es wirklich eine so gute
Idee war, mich ausgerechnet hier mit Mika zu verabreden? So
wenige Tage ist es erst her, dass wir uns vor Mels Grab getroffen
haben, und so viel ist seitdem passiert.
Ich muss mich zwingen weiterzugehen, versuchen, in diesem
Park das zu sehen, was er tatsächlich ist. Kein Friedhof, sondern
ein Stückchen Grün mitten in der Stadt. Suchend gehe ich den
Weg entlang. Es ist kaum jemand unterwegs, für lange Spaziergänge
ist es noch immer viel zu kalt.
Dann sehe ich Mika. Er sitzt mit dem Rücken zu mir auf einer
Bank. Völlig zusammengesunken, so als ob er sich zwischen seinen
Schultern verstecken wollte.
Als mich seine SMS gestern Abend erreichte, hätte ich mich
am liebsten sofort mit ihm getroffen, so froh war ich, überhaupt
noch einmal etwas von ihm zu hören.
Was weißt du über Melanie? , hatte er geschrieben. Und in einer
zweiten SMS dann:
Es tut mir leid
.
Mehr nicht. Aber mehr war auch nicht nötig. Und so hatten
wir vereinbart, uns heute zu treffen.
Ich sehe seinen dicken Parka, in den er sich tief verkrochen hat.
Um den Hals trägt er einen grünen Schal, weich sieht der aus, so
wie die Sorte Schal, in die man sofort sein Gesicht schmiegen
möchte. Seine blonden Locken stehen in alle Richtungen vom
Kopf ab, sie kräuseln sich in seinem Nacken, und ich bleibe kurz
stehen, um ihn in Ruhe betrachten zu können.
Mika ist mindestens so nervös wie ich. Sein
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