Wie ein Flügelschlag
Reißverschluss der linken
Seitentasche auf und fahre mit der Hand hinein – Fehlanzeige.
Die Seitentasche ist leer. Mit zittrigen Fingern ziehe ich
den Reißverschluss wieder zu.
Eine Tür klappert. Ich hebe entsetzt den Kopf. Horche.
Nichts. Dann mache ich mich an die andere Seitentasche. Ich
zerre den Reißverschluss auf, fasse hinein und spüre eine Plastikdose.
Drexlers Frühstück vermutlich. Meine Finger tasten
um die Dose herum, aber ich finde nur noch ein Päckchen Taschentücher,
ansonsten ist auch diese Tasche leer.
Verdammt. Wenn Drexler seine Schlüssel im Hauptfach hat,
wird es dauern, sie zu finden. Ich reiße das Hauptfach auf und
werfe einen Blick hinein. Vielleicht habe ich Glück und die
Schlüssel liegen obenauf. Aber alles, was ich sehe, ist ein ordentlich
gefaltetes Handtuch, der Rest muss sich darunter befinden.
Ungeduldig taste ich um das Handtuch herum. Mir läuft die
Zeit davon. Drexler kann jeden Moment merken, dass ich schon
viel zu lange weg bin. Schließlich seufze ich enttäuscht auf. Es
hat keinen Zweck. Das Risiko, noch länger in der Jungenkabine
zu bleiben, ist zu groß. Ich muss es noch mal an einem anderen
Tag probieren.
Als ich gerade das Handtuch wieder zurechtziehen will, stoße
ich gegen etwas Kantiges. Ich greife danach und ziehe eine
Schachtel aus der Tasche. Noch bevor ich einen Blick darauf
werfe, weiß ich, was es ist.
Construnit lese ich und lasse die Schachtel fallen, als ob ich
mich daran verbrannt hätte.
Noch einmal greife ich mit beiden Händen in die Tasche,
reiße das Handtuch zur Seite und starre auf mindestens fünf
oder sechs dieser Schachteln.
Das gehört mir nicht , hatte Melanie gesagt, und jetzt weiß ich,
dass sie die Wahrheit gesagt hat.
Hektisch schiebe ich die Schachteln wieder unter das Handtuch.
Mein Puls rast. Jetzt bloß nicht die Nerven verlieren. Ich
muss in Drexlers Büro kommen, egal wie, aber erst mal muss ich
raus hier.
Meine Finger zerren an dem Reißverschluss, der plötzlich
klemmt und sich keinen Millimeter mehr bewegen lässt. Ich
reiße und ziehe, nichts. Verdammt, das hat mir gerade noch gefehlt.
Wenn ich die Tasche so stehen lasse, merkt Drexler sofort,
dass jemand an seinen Sachen war. Aber ich habe keine andere
Wahl. Wenn ich jetzt nicht abhaue, erwischt er mich sowieso.
Ich haste zur Toilettentür, als diese mit einem Mal von außen
aufgerissen wird. Jonas steht vor mir und starrt mich mit offenem
Mund an.
Ich würde ihn gerne bitten, die Klappe zu halten, möchte ihm
erzählen, was ich gefunden habe und dass Drexler irgendetwas
mit Melanies Tod zu tun haben muss, aber dafür reicht meine
Zeit nicht. Schneller, als ich bis drei zählen kann, hat Jonas die
anderen gerufen. Ich versuche, mich an ihm vorbeizuquetschen,
damit es wenigstens so aussieht, als ob ich nur das falsche Klo
benutzt hätte, aber Jonas stützt sich mit den Armen im Türrahmen
ab und denkt gar nicht daran, mich entkommen zu lassen.
Ich stemme mich gegen seine Arme. »Jonas, bitte. Es ist nicht
so, wie du denkst.«
Alles, was ich ernte, ist ein hämisches Grinsen. »Das war's
dann wohl, nicht wahr?«
Ich fühle, wie mir Tränen in die Augen schießen. »Jonas,
bitte.« Ich hasse mich für diese Bettelei.
»Verdammt, was ist hier los?«
Es dauert eine Weile, bis Drexler sich in dem Tumult um mich
herum Ruhe verschafft hat. Ich sehe seinem Gesicht an, dass er
die Situation mit einem Blick erfasst hat. Er scheucht alle zurück
ins Wasser. Mich selbst hält er so fest am Oberarm gepackt, dass
ich laut aufstöhne.
»Wir werden das mit der Schulleitung klären, Schwarzer.
Jetzt.«
Er hatte es gewusst.
Von Anfang an wusste er, dass er sich auf sie verlassen konnte.
Sie war wie er.
Sie hatte von klein auf gelernt zu kämpfen.
Es gab nichts geschenkt im Leben.
Sie wusste das.
Und sie würde nicht so schnell aufgeben.
Sie war wie er.
Wenn sie nicht sofort aufhört, mich so anzustarren, raste ich aus.
Ich springe auf und laufe durch die Küche. Hin und her. Hin und
her. Ich kann nicht länger stillhalten.
Seitdem ich gestern nach Hause gekommen bin, versucht
meine Mutter, mich auszuquetschen. Ich habe mich bemüht,
ihr zu erklären, was passiert ist, aber es gelang mir nicht. Da ist
zu vieles, das sie nicht wissen soll, zu vieles, was sie nichts angeht.
Alles, was sie bisher weiß, ist, dass es Ärger gab. Und dass ich
von der Schule geflogen bin. Selbst das hätte ich ihr am liebsten
verschwiegen, aber meine Mutter mag sein, wie sie will,
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