Wie ein Fremder in der Nacht: Roman (German Edition)
schien, als versuchte er, sich an einen anderen Ort zu versetzen. Und dann fühlte es sich – ausgerechnet in ihrer Hochzeitsnacht – einen Moment lang doch eher so an, wie sie immer befürchtet hatte. Ein wenig schändlich, animalisch. Doch während er schlief, verscheuchte sie diese Vorstellung aus ihrem Kopf und beobachtete ihn – seine vollen, geschwungenen Lippen, die rote Wange, blonde Locken auf dem Kissen und in seiner Stirn, und sie wusste nicht mehr, wie sie je daran zweifeln konnte, dass ihre Liebe zu ihm rein und richtig ist.
Schließlich, in den frühen Morgenstunden, zog sie die zerdrückten Astern aus den Locken, bürstete sich das Haar, kroch dann tief unter das neu bezogene Federbett, das Grandma Marthies Hochzeitsgeschenk gewesen war, und schlang sich um ihren warmen, schlafenden Ehemann. Als sie einige Stunden später aufwachte, war sie allein.
Sie ging in die Küche, wo Grandma Marthie gerade eine Pfanne mit frischen Brötchen vom Herd zog, von ihrem neuen Ehemann keine Spur. Grandma sah sie mit einer Frage in den Augen an und beschäftigte sich dann damit, die Brötchen zum Abkühlen aus der Pfanne zu stürzen. Vista sagte nichts auf ihrem Weg zur Tür. Das Sonnenlicht draußen war strahlend weiß und stach in ihren Augen. Da draußen waren lediglich zwei lärmende Krähen, die sinnlos am welken Gras pickten.
Da sie nichts mit sich anzufangen wusste, lief Vista zum Ende des Feldwegs, wo er auf die Straße nach Torchlight traf. Sie kletterte sogar über einige Pfade auf den Bergkamm hinter der Hütte, in der Hoffnung, Nicklaus Jansen hätte vielleicht am Tag nach seiner Hochzeit Lust auf einen frühmorgendlichen Streifzug durch den Wald bekommen. Jedoch war von ihm nichts zu entdecken, also kehrte sie atemlos und hungrig in die Hütte zurück, verwirrt von seiner Abwesenheit und mit wachsender Besorgnis.
Sie setzte sich hin, um eines von Grandma Marthies Brötchen mit frischem Kleehonig zu essen, einem Geschenk von einem Nachbarn weiter oben im Tal, der Bienen züchtete. Als Grandma sie, in aller Unschuld, fragte, wo ihr Mann sei, blaffte Vista »Weiß ich nicht, er kommt bestimmt gleich wieder« und stand auf, um ihr Zimmer aufräumen zu gehen.
Da fand sie dann seinen Zettel. Gerade hatte sie sorgfältig das blaue Batistkleid gefaltet, das sie sich für die Hochzeit genäht hatte, und erschrocken bemerkt, dass Nick, wohin auch immer er gegangen war, die kleine Tasche mit Kleidung mitgenommen hatte, die er am Vortag in die Hütte gebracht hatte. Vielleicht, redete sie sich ein, war er nur in die Stadt gelaufen, um den Anzug zurückzugeben, den er sich für die Hochzeit geliehen hatte, und hatte die anderen Sachen, die er dabeigehabt hatte, angezogen.
Mit diesem Gedanken drehte sie sich um und wollte das Bett machen, wurde dabei aber von dem Drang überwältigt, unter die Decke zu kriechen und weiterzuschlafen und zu hoffen, dass sie beim nächsten Aufwachen feststellen würde, es war einfach nur ein schlimmer Traum gewesen. Ihr schlafender Ehemann läge da, wie ein Säugling unter ihrem ausgestreckten Arm zusammengerollt, sein süßer Atem würde sie am Hals kitzeln.
Als sie aber die Decke ausschüttelte und ins Bett steigen wollte, schwebte ein kleines Stück weißes Papier langsam zu Boden. Noch während es schwebte, zog sich Vistas Magen zusammen. Sie wusste schon, bevor sie den Zettel las, was darauf stand.
»Es tut mir leid, aber ich glaube, es war ein Fehler, dass wir geheiratet haben. Bitte versuch, mich zu vergessen.« Und unterzeichnet war er schlicht: »Nick«.
Lange Zeit hielt Vista das Blatt in der Hand, starrte es ausdruckslos an, verständnislos. Als sie sich schließlich zwang, die Worte aufzunehmen, zerrte sie wütend an dem Papier herum, zerriss es in winzige Fetzen, die sie später am Tag ins Feuer werfen würde. In diesem Augenblick allerdings zerknüllte sie die Fetzen in der Faust und schob sie unter das Kissen. Dann vergrub sie auch ihr Gesicht dort und ließ den Tränen freien Lauf.
Wieder einmal waren nur sie und ihre Grandma übrig, aber hatte sie denn jemals etwas anderes erwartet? Die Goldenen verließen das dunkle Tal, so viel war klar geworden. Manche lebten im warmen Sonnenlicht weiter, in gelben Küchen mit durchsichtigen Glasfenstern, die all die Helligkeit hereinließen. Andere wollten zu viel zu schnell und wurden dunkler und rissiger um den Rand, rau und nie ganz sauber. Und dann starben sie. Den ganzen Winter lang hielt Vista sich an dem neuen Leben
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