Wie ein Fremder in der Nacht: Roman (German Edition)
in sich fest, entschlossen, dass dieses eines der Goldenen sein würde, eines, das entkam, das golden blieb.
Es war ein harter Winter, ungewöhnlich kalt für den Osten Kentuckys, und Ende Januar, als Vistas Schwangerschaft allmählich zu sehen war, hatten sich graue Eisklumpen dauerhaft in den zahlreichen Spalten und Ritzen der Hütte festgesetzt. Alle paar Tage lief Vista zu Fuß in die Stadt. Sie las wieder, seit zweimal die Woche eine mobile Bücherei in Torchlight haltmachte – ein alter Ford-Transporter mit Bücherkisten im Laderaum, der um elf Uhr vor dem Postamt parkte. Er blieb nie lange stehen. Das war nicht nötig, da Vista und die alte Tante Pearlie Dawson und der blasse und schweigsame Shade Nixon die einzige Kundschaft waren, die je kam.
Tante Dawson rauchte Pfeife beim Warten. Sie war eines der Kinder der Cousine, die Grandma Marthie als kleines Kind aufgenommen hatte, und sie hatte nie geheiratet. Eine Zeitlang hatte sie irgendwo im Norden in einer Fabrik gearbeitet, aber als die Kohle ihren Papa holte, dieses Mal bei einem der schlimmsten Unfälle in der Geschichte der örtlichen Mine, war sie zurückgekehrt, um bei der Versorgung ihrer jüngeren Geschwister zu helfen.
»Morgen, Dawson«, begrüßte Vista sie mit einem Nicken und überlegte, ob die alte Frau aussah, als wäre sie die ganze Nacht auf gewesen, und ob ihr Atem nach Schnaps roch. Tante Dawson wohnte inzwischen in einem Zimmer über dem Gemischtwarenladen von Torchlight, wo sie, wie man sich erzählte, die ganze Nacht Whiskey trank und Bücher las.
»Morgen, Vista«, gab sie zurück. »Geht’s dir ein bisschen besser?«
»Und wie, Ma’am«, antwortete Vista dann. Nicht lange nachdem Nicklaus gegangen war, hatte sie sich hundeelend gefühlt, und Grandma hatte ihre Schwangerschaftsübelkeit mit diversen Frauen im Tal diskutiert, um sich an die Heilmittel zu erinnern, die sie alle zu ihrer Zeit ausprobiert hatten. Durch die Ein-Kind-Gepflogenheit der Familie Combs war manches von diesem überlieferten Wissen verloren gegangen. Doch nach Rücksprache mit Tante Dawson und anderen hatte sie sich für Wermuttee und Sodacracker entschieden.
Der andere Leser, Shade Nixon, war ebenfalls einer von Miss Drurys Schülern gewesen. Er war ein oder zwei Jahre jünger als Vista, blass und kränklich und wurde von seinem Bruder und zwei Schwestern und den anderen Kindern, die jeden Tag von oberhalb des Harmony Creek am nördlichen Ende des Tals mit ihnen zur Schule liefen, verachtet. Ihm hatte Vista beim Abc nicht helfen müssen, denn er hatte schon lesen gekonnt – hatte sogar bereits die Familienbibel und alles, was er sonst noch in die Hände bekam, gelesen, seit seine Mutter es ihm im Alter von vier Jahren beigebracht hatte. Nach ihrem Tod, mit sechs oder sieben, kam Shade zu den anderen Kindern in Miss Drurys Klasse. Miss Drury hatte großes Aufhebens von ihm gemacht, weil er schon alles lesen konnte, was man ihm vor die Nase hielt. Doch nichts von alledem schien für Shade von Bedeutung zu sein. Ja, es hatte den Anschein, als dränge überhaupt nichts zu ihm durch.
Seit Miss Drury weggezogen war, hatte Vista ihn nicht oft gesehen. Er besuchte nie den Gottesdienst der Red Lick Church. Nicht, dass Vista eine regelmäßige Kirchgängerin gewesen wäre, aber wenn sie sich doch einmal blicken ließ, an Weihnachten oder Ostern zum Beispiel, waren zwar vielleicht Shades Vater und drei oder vier seiner Geschwister dort, Shade aber begleitete sie nie. Er arbeitete für eine Holzfirma, führte dort die Bücher, und er schien so verachtet und isoliert wie eh und je zu sein. Kam der Bücherwagen einmal zu spät und sie, Shade und Tante Dawson warteten in der Tür des Postamts, versuchte Vista manchmal, ein Gespräch mit ihm anzufangen. Doch er sah ihr nie in die Augen.
Eines Morgens, als Vista ihre Bücher zum Fahrer trug, um sie ins Register eintragen zu lassen, trat sie zurück und ließ Shade vor, weil sie angeblich ein Buch vergessen hatte, das sie noch ausleihen wollte. In Wirklichkeit aber wollte sie nur sehen, was er ausgesucht hatte. An jenem Morgen war es Das Wintermärchen von Shakespeare und etwas von einer Frau, deren Namen sie nicht kannte, doch darüber hinaus hatte er noch mehrere andere Artikel – kleine braune Umschläge mit aufgeklebten Etiketten.
»Shade, was ist das andere, was du da hast?«, fragte sie, und ehe er antworten konnte, mischte sich der Fahrer ein. »Wissen Sie denn nicht, dass man jetzt hier auch Musikaufnahmen
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