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Wie ein Fremder in der Nacht: Roman (German Edition)

Wie ein Fremder in der Nacht: Roman (German Edition)

Titel: Wie ein Fremder in der Nacht: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joyce Hinnefeld
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leihen kann?«
    »Nein, weiß ich nicht«, fauchte Vista das neunmalkluge Collegebübchen am Steuer an, das sie noch nie gemocht hatte. Und weil sie wusste, dass es ein sicherer Weg wäre, um das Herz eines braven Christenjungen aus Berea zu rühren, fügte sie hinzu: »Wo soll denn wohl jemand wie ich hingehen, um Schallplatten zu hören?«
    Shade Nixon räusperte sich nur und schrieb seinen Namen ins Register. Doch als er sich zum Gehen wandte, tippte er sich an den Hut und sagte zu Vista: »Wenn du ein Grammophon brauchst, könnte ich dir meins geben. Ich hatte sowieso vor, mir ein neues zu kaufen, wenn ich das nächste Mal nach Pikeville komme.« Und damit eilte er die Straße hinauf zum provisorischen Büro der Holzfirma neben dem Futtermittelgeschäft.
    Eine Woche später hatte er es dabei: eine Riesenkiste von einem Gerät mit einem trichterförmigen Ding, das an die Seite geschraubt wurde. »Von mir aus kann ich es dir auch nach der Arbeit nach Hause bringen«, sagte er, und dieses Mal war es Vista, der nichts zu sagen einfiel. Also fuhr Shade fort: »Vergiss nicht, dir gleich was auszuleihen, was du hören kannst.« Und damit trug er das Grammophon zurück in sein Büro.
    Vista war ganz aufgeregt und durcheinander, sie hatte Angst, das neunmalkluge Collegebübchen zu fragen, welche Platten er an dem Tag dabeihatte. Doch da hörte sie plötzlich Tante Dawson hinter sich. »Nur zu, Kleines, hab bloß keine Angst vor dem Burschen«, und genau in dem Moment spürte Vista, wie ihr Kind ihr einen satten, schnellen Tritt in die rechte Bauchseite versetzte. Sie lachte und hielt sich an Tante Dawsons Arm fest.
    An jenem Morgen suchte sie sich nur eine Platte aus – Lieder der Carter Family, darunter einige, die sie von Tanzabenden und Kirchentreffen kannte: Bury Me Under the Weeping Willow , River Jordan , Cannon Ball . Mehr als eine Platte auszuleihen, traute sie sich nicht, und außerdem sagten ihr die anderen Namen auf den Etiketten auch alle nichts.
    Shade tauchte an jenem Tag nur wenige Minuten nach vier auf, und er zeigte Vista und Grandma Marthie, wie man das Grammophon aufzog und die Nadel sanft aufsetzte, genau in die erste Rille auf der glänzenden schwarzen Scheibe. Vista glaubte, ein ganz kurzes Stirnrunzeln bei ihm bemerkt zu haben, als er die Schallplatte betrachtete, die sie mitgebracht hatte.
    »Wolltest du nur eine?«, fragte er, und sie nickte, denn es war ihr peinlich zuzugeben, dass sie von den anderen Namen keinen gekannt hatte. Für seine Bemühungen setzten sie und Marthie Shade eine anständige warme Mahlzeit vor, und obwohl er nicht viel zu sagen hatte, löste er doch ab und zu den Blick vom Fußboden.
    Als er gegangen war, hörten Vista und Grandma Marthie die Platte immer und immer wieder. Marthie starrte unablässig die kreisende Scheibe an, aber Vista wurde davon schwindlig, und sie blickte hinaus in den Schnee, während Mother Maybelle sang. Schließlich, als sie die Platte ungefähr ein Dutzend Mal abgespielt hatten und die Sonne schon allmählich hinter dem westlichen Hügelkamm unterging, stand Grandma auf, um den Tisch abzuräumen, und Vista döste auf ihrem Stuhl neben dem Herd. Das Kreisen der Platte wurde nach und nach langsamer, und die Nadel surrte über den Rand und machte ein leises, rhythmisches Knallgeräusch, das selbst ein bisschen wie Musik klang.
    Als Vista die Augen aufschlug, lächelte Grandma Marthie sie an. »Glaubst du, Shade Nixon hat beschlossen, dir den Hof zu machen, kleine Visitor?«
    Vista riss die Augen weit auf und sah auf ihren sich wölbenden Bauch, und dann brachen sie beide in ein Gelächter aus, das so laut war wie vorher der Gesang von der Platte. Vista wurde bewusst, dass genau über so etwas ihre Mama mit ihrer Grandma gelacht hätte. Urplötzlich kam ihr die Vorstellung von einem Mann – jedem Mann, aber ganz besonders Shade Nixon –, der über den Feldweg zu ihrer Hütte stapfte, um ihr den Hof zu machen, unerträglich komisch vor, komisch auf die Art, bei der man lachen musste, bis man glaubte, man würde vielleicht gleich weinen.

Pilger und Fremde
    1961
    Z wei junge Frauen und ihre Holzkisten. Ihre Apparate. Wenn Maze und Mary Elizabeth nicht in ihrem Zimmer oder im Unterricht oder beim Essen waren oder auf einer ihrer langen Samstagswanderungen, dann fand man sie in jenem Herbst an einem Webstuhl (Maze) oder an einem Klavier im Musikgebäude (Mary Elizabeth). Der Klavierlehrer von Berea, Mr Roth, war sprachlos über Mary Elizabeths Können.

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