Wie ein Fremder in der Nacht: Roman (German Edition)
Als er sie das erste Mal spielen hörte, erklärte er ihr, er habe ihr nichts mehr beizubringen.
»Wo haben Sie so zu spielen gelernt?«, fragte er. Das meinte er nicht unfreundlich, Mary Elizabeth wusste das, doch sie hatte die besondere Betonung gehört, die er, wenn auch sehr leicht, auf das Sie gelegt hatte. Es wurmte sie, aber sie wollte es sich nicht anmerken lassen.
Sie betrachtete ihre Hände auf dem Schoß. »Zuerst bei meiner Tante. Sie hat ein paar Jahre in Paris gelebt und es dort gelernt«, sagte sie. »Dann bei Professor Hallis an der Universität von Kentucky.« Sie blickte auf, weil sie wusste, dass Mr Roth auf eine weitere Erklärung warten würde. »Er war ein Freund von ihr.«
»Verstehe.« Der junge Lehrer, der wahrscheinlich nur ein paar Jahre älter war als Mary Elizabeth, nickte langsam, ohne den Blick von ihr zu lösen. »Tja«, sagte er, »ich habe Ihnen vielleicht nicht viel beizubringen, aber ich kann mit Ihnen arbeiten, und ich kann ein paar Leute hier in der Gegend auf Sie aufmerksam machen.« Einige Tage später arrangierte er für Dezember ein Konzert, bei dem sie dem Rektor und dem Vorstand des College vorspielen sollte. Sie stellten sofort ein Programm zusammen.
»Nur zwei Stücke«, sagte Mr Roth zu Mary Elizabeths Erleichterung. Sein glattes blondes Haar fiel ihm ständig in die Augen, und nun wischte er es mit zierlichen Fingern zurück. »Sonst nicken die alten Knacker noch ein. Sie mögen die Franzosen, also spielen Sie doch eines der Debussy-Stücke. Und dann Chopin. Sie sollten an den Etüden arbeiten.«
Sie willigte ein. Insgeheim war sie entzückt von der Idee. Tante Paulie hatte Chopin geliebt und einige Walzer mit ihr geübt. »Wie der Klang eines stetigen Regens nach einer langen, staubigen Dürre« hatte sie ihn beschrieben, nachdem sie den »Walzer in e-Moll« auf ihrem Plattenspieler aufgelegt hatte. Mr Roth liebte es, wenn Mary Elizabeth sich daran erinnerte, was Tante Paulie gesagt hatte. Cortot war ein nervöser kleiner Kollaborateur. Ravel war ein Mamasöhnchen. Horowitz hatte Hände wie Rennpferde. Gottschalk klaute seine besten Ideen bei schwarzen Musikern. Mr Roth ließ sie eine Pause machen und eine Tasse Tee trinken und ihm Geschichten von ihrer Tante erzählen. Dann warf er sein blondes Haar zurück und lachte hemmungslos.
Allerdings wünschte sie später, ihm eines nicht erzählt zu haben. Nämlich dass Tante Paulie immer gern Strawinsky gespielt hatte. Petruschka , die von ihm für Klavier adaptierte Fassung. Drei Sätze, und keinen davon hatte sie je beherrscht. Das war das eine, das Mary Elizabeth besser für sich behalten hätte.
»Dann nehmen wir uns das nach dem Konzert im Dezember vor«, war Mr Roths Entgegnung an jenem Tag nach einer Unterrichtsstunde Ende September, als sie es ihm erzählte. »Sie werden es beherrschen, und dann spielen Sie es bei einem noch größeren Konzert am Jahresende. Rektor, Vorstand, die ganzen Geldleute, die gesamte Fakultät … Es wird fantastisch werden. Da werden die sehen, wie gut Sie sind, was Sie können. Sie werden es ihnen beweisen.« Ihre Hautfarbe erwähnte er nie. Das musste er nicht. Was sie nie begriff, war, warum es für ihn so wichtig zu sein schien. Es verunsicherte sie und brachte sie dazu, zu viel zu reden, ihm zu viele Dinge zu erzählen.
Beide, Maze und Mary Elizabeth, waren in jenem Herbst in Berea glücklicher, als sie erwartet hatten. An sonnigen Samstagen, nachdem sie den Vormittag lang geübt und gewebt hatten, wanderten sie zusammen in die Berge, entweder auf der Scaffold Cane Road oder den felsigen Abhang des Hügels hinauf, den sie Devil’s Slide nannten, mit Sandwichs und Wasser in einem Rucksack, den sie abwechselnd trugen. Junge Männer aus der Stadt – »Tölpel« nannten die Studenten sie – brüllten sie aus den Fenstern ihrer Autos an, wenn sie auf der Straße an ihnen vorbeifuhren. Aber sie nahmen es kaum wahr, da Mary Elizabeths Finger noch kribbelten und ihre Ohren von Chopin erfüllt waren, und Maze unbewusst im Takt ihrer Füße beim morgendlichen Weben lief.
Auf ihren Wanderungen unterhielten sie sich über vieles. Mary Elizabeths Fortschritt bei den Etüden, Maze’ Auseinandersetzungen mit dem besserwisserischen Mädchen, das die frühere Vorarbeiterin der Webgruppe abgelöst hatte.
Maze hatte dem College ihr Können am Webstuhl verschwiegen, um die Arbeit zugeteilt zu bekommen, die sie haben wollte: als Mitglied der Webgruppe an den verschiedenen Webstühlen in der
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