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Wie ein Fremder in der Nacht: Roman (German Edition)

Wie ein Fremder in der Nacht: Roman (German Edition)

Titel: Wie ein Fremder in der Nacht: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joyce Hinnefeld
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gab, kehrte die Furcht zurück. Alle sahen sie dann so erwartungsvoll an! Als würde sie ihnen gleich Nachrichten von Robert bringen. Denn das war ja das Einzige, das es wieder besser machen würde, das wusste sie. Aber sie hatte keine Neuigkeiten für sie. Ihre Kehle war trocken, es war nichts darin. Wenn Tante Paulie geendet hatte, sich auf dem Klavierhocker umdrehte und sie mit ihrem unerbittlichen Blick ansah, wollte Sarah nur flüchten.
    »Eines Tages wirst du mit mir sprechen, Kind«, sagte sie in einem schroffen Flüstern. »Eines Tages wirst du mir alles erzählen.« Und Sarah wich zurück, starrte auf den Boden, nickte aber auch – nickte, damit ihre Tante nur ihren schonungslosen Blick auf jemand oder etwas anderes richtete.
    Was niemand zu begreifen schien, war, dass Robert bisher keine Botschaften geschickt hatte. Und was das betraf, was sie an jenem Tag gesehen hatte: Dafür gab es keine Worte. Und was sie gesehen hatte, war alles, was es gab, alles, was es je geben würde, für sie, für immer.
    Abends, allein in der Dachkammer, in der sie schlief, während ihre Eltern unten noch wach waren, probierte sie geflüsterte Laute aus für eine neue Art zu sprechen, es zu sagen. Eine neue Sprache für das, was sie wusste.
    Ahhh. Fort. Ah fort. Ah fort gewesen.
    Sehen gesehen Sünde. Sünde gesehen ah.
    Fort, ahh fort, oh.
    Gesehen. Gess sss. Sssst. Psst.
    Gewesen. Gesehen.
    Gesehen, ssst. Schritt Tritt ittt.
    Hin her hin. Licht so ssssoo. Psssst.
    Ah fort. Oh. Sst. Stttst .
    Auf diese Weise konnte sie wenigstens aushalten, die Augen zu schließen und einzuschlafen. Indem sie die Laute einer anderen Sprache wiederholte. Worte für das, was niemand sonst in der Welt der Lebenden kannte.
    Drei Jahre nach Roberts Tod, als sie schließlich doch beschloss, wieder zu sprechen, die Worte der anderen, ihre nutzlosen Laute zu verwenden, war es nicht Tante Paulie, die sie dazu überredete. Es war George Cox, achtzehn Jahre alt – sie war nun fünfzehn –, und zurück von seinem ersten Jahr am Lincoln Institute in Louisville. Er hatte vor, Pfarrer zu werden, und seine Stimme war während seines Studienjahrs tief genug geworden, so dass jeder auf der Black Pool Road es für möglich hielt.
    Als Junge war er Georgie gewesen, ein mürrischer, untersetzter Einzelgänger, der viele Wochenenden und einen Großteil des Sommers im Haus seiner Großeltern verbrachte, der ältesten Hütte an der Black Pool Road. Samuel und Naomi Cox waren als Sklaven in Virginia auf die Welt gekommen, ehe sie sich in dieser Hütte niederließen und eines der ersten für schwarze Bauern parzellierten Schwemmlandfelder zu bebauen begannen, nach dem Krieg. Sie hatten jedes ihrer sechs Kinder aufs College geschickt, und manche davon waren nach Norden gezogen. Georgies Vater war Lehrer in der Farbigenschule in Lexington, und Georgie war das einzige Kind seiner Eltern, still und religiös, sagten alle, und wenn seine Cousins und Cousinen und Tanten und Onkel sich im Sommer auf Naomi und Samuels Veranda versammelten, sich gegenseitig Geschichten und Witze erzählten, dann stand er immer am Rand und lächelte.
    Im Gegensatz zu den anderen Kindern hatte George Cox nie über Sarah gelacht, weder über ihre Größe noch über ihren unbeholfenen Gang oder ihr Schweigen. Wenn ein anderes Kind lachte und sie einen komischen Vogel oder etwas Schlimmeres nannte und die anderen in das Gelächter einfielen, blieb sein weiches Gesicht ernst, und er sah sie beobachtend an, als wartete er, was sie tun würde.
    In jenem Sommer, als er achtzehn war, hatte er sich einen Schnurrbart wachsen lassen, und obwohl er nicht schlank geworden war, schien er irgendwie in sein Gewicht hineingewachsen zu sein. Er wirkte größer, als er ankam, und stark. Eines Samstags lief Sarah an der Kirche vorbei und hörte ihn drinnen singen: » Precious Lord, take my hand. « Als er sie im Türrahmen stehen und ihn beobachten sah, wirkte er einen Moment lang verlegen. »Ich halte den Gottesdienst morgen«, erklärte er, den Blick zu Boden gerichtet. »Ich bereite mich nur gerade darauf vor, das erste Lied vorzusingen.«
    Sie wandte sich zum Gehen, nun selbst verlegen, doch er rief ihr nach. Er nahm sie bei der Hand und führte sie nach vorn. Dann setzte er sich ans Klavier und bedeutete ihr mitzusingen.
    »Vermisst du das Singen nicht?«, fragte er sie. Mit zwei Fingern stimmte er eine Melodie an – I’ll Fly Away – und summte mit. Seine Stimme war tief und voll.
    All die Jahre, und

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