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Wie ein Fremder in der Nacht: Roman (German Edition)

Wie ein Fremder in der Nacht: Roman (German Edition)

Titel: Wie ein Fremder in der Nacht: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joyce Hinnefeld
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reinschreiben, Kind«, sagte sie. »Schreib, was du willst. Oder mal Bilder. Egal was. Hauptsache irgendwas.«
    Sarah betrachtete es. Es war kaum größer als ihre Hand, in dünnes braunes Leder gebunden. Dann legte sie es auf den Tisch. Vielleicht, dachte sie, schenkten sie ihr dieses Notizbuch, weil sie sich geweigert hatte, wieder zur Schule zu gehen.
    Sie sprach nicht mehr. Sie hatte es versucht, aber wenn sie nach jenem Morgen den Mund öffnete, kam nur ein schwacher Luftzug heraus. Es war passiert, als sie ihn fand. Sie machte den Mund auf, um zu schreien, doch stattdessen würgte sie. Ihre Stimme flog von ihr fort. Sie vermutete, dass er sie mitgenommen hatte.
    Andere Kinder wechselten die Straßenseite, wenn sie ihnen entgegenkam, wie sie es vorher auch getan hatten. Aber nun waren ihre Augen zu Boden gerichtet, statt vor Lachen zu funkeln. Jeder flüsterte in ihrer Nähe, berührte sie, als wäre sie eine Porzellanpuppe. Außer Tante Paulie, die wütend war. Manchmal, dachte Sarah, auf sie.
    »Lasst sie einfach in Ruhe«, zischte sie, wenn Sarahs Daddy versuchte, sie zum Sprechen zu bewegen.
    »Du vergisst noch, wie es geht , Mädchen«, sagte er an den Abenden und zog sie auf seinen Schoß. Sie war immer noch klein für ihr Alter in diesen Jahren, mit zwölf, dreizehn, vierzehn, und passte dort gut hin. Sie wollte es ihm recht machen, aber sie konnte nicht. Statt zu sprechen, vergrub sie das Gesicht an seinem süß riechenden Hals.
    Bald kaufte Tante Paulie, die aus Paris dieses Mal mit einer eigenen geheimnisvollen Geldrolle – einer viel dickeren, als Sarahs Daddy je besessen hatte – zurückgekehrt war, ein Haus in der Jefferson Street drüben in Lexington. Von weiteren Scheinen der scheinbar endlosen Rolle hängte sie Vorhänge an die Fenster und stellte ein Klavier in den Salon.
    »Wo hat sie denn bloß das ganze Geld her?«, fragte Sarahs Mama, als sie am ersten Sonntag danach zu Besuch kamen und Paulie aus dem Salon ging, um einen Krug Limonade zu machen. »Geheiratet hat sie nie, also woher kriegt sie irgendeine sogenannte Erbschaft?« Ihr Daddy drehte sich nur zur Seite und sah aus dem Fenster auf die ruhige, schattige Straße. Inzwischen wusste sogar Sarah, dass diese Frage nicht beantwortet werden sollte.
    Doch sie fuhren weiterhin zu Tante Paulie, sonntags nach der Kirche nahmen sie den Bus. Sie spielte Klavier für sie – ein prachtvoller Klang, wie Wasser, das erst rauscht, dann tröpfelt.
    »Keine Honkytonk-Musik, nicht vor dem Kind«, beharrte ihre Mutter, als befände sich Sarah nicht im selben Raum. Es war, als glaubten sie, sie hätte neben dem Sprechen auch das Hören eingestellt. »Wohin das führt, haben wir ja erlebt.«
    Also spielte Tante Paulie an Sonntagen, was sie »die Klassiker« nannte – Chopin, Ravel, die Musik, die sie in Paris gelernt hatte. Claude, sagte sie, habe Musiker jeder Sorte gekannt. Er habe sein Geld damit verdient, ihre Instrumente zu stimmen und zu reparieren. An anderen Wochentagen füllte sich Paulies Salon mit Musikern, die in Louisville wohnten, und sie spielten bis spät in die Nacht. Andere Musik – Jazz, Blues. Honkytonk. An manchen Freitagen fuhr Sarahs Vater mit seinem Freund Carl zu Tante Paulie. Bei Tagesanbruch schlich er sich dann zu Hause herein, nach Whiskey und Zigaretten riechend, und mehrere Tage mussten sowohl er als auch Sarah das wütende, verkniffene Schweigen ihrer Mutter ertragen.
    Aber ihre Mutter hätte sich keine Sorgen um Tante Paulies Einfluss machen müssen, selbst als Sarah anfing, gelegentlich ein Wochenende bei ihr zu verbringen. In Wahrheit hatte Sarah Angst vor ihr. Alles an Tante Paulie war zu groß. Zu groß, zu laut, zu gefährlich. Wie ein Berg, wie die riesige, bedrohliche Brücke über den Kentucky River, die man überqueren musste, um zu ihr zu fahren. An diesem Abschnitt der Fahrt musste Sarah sich die Augen zuhalten und warten, bis sie auf der anderen Seite ankamen. Die Brücke war zu hoch, das Wasser des Flusses zu weit weg.
    Paulie war wirklich eine stattliche Frau – groß und breitschultrig, mit einem langen Hals und einer hohen Stirn. Ihr Mund war breit und immer in Bewegung – Reden, Lächeln, Grinsen, Lachen –, ihre Stimme kehlig und tief. Sarah liebte die Musik, alles davon – nach einer gewissen Zeit auch die Honkytonk-Lieder, die hoch zu ihr ins Zimmer wehten, wenn sie übers Wochenende zu Besuch war. Beim Zuhören konnte sie beinahe ihre Angst vergessen. Wenn sie allerdings ihre Freude zu erkennen

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