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Wie ein Fremder in der Nacht: Roman (German Edition)

Wie ein Fremder in der Nacht: Roman (German Edition)

Titel: Wie ein Fremder in der Nacht: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joyce Hinnefeld
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ihr Vater Anstalten, etwas zu sagen, doch sie warf ihm einem vielsagenden Blick zu, und er zündete seine Pfeife an und ging damit auf die Veranda.
    Als Sarah ein Baby war, hieß es, etwas sei nicht in Ordnung. Sie lief erst spät und dann nicht richtig, mit einem langsamen, eigenartigen Gang. Sie wurde älter, blieb aber klein. Am Bach, ganz allein, konnte sie stundenlang die kleinen Fischchen beobachten und davon träumen, sich so zu bewegen, so jäh von Ort zu Ort zu schnellen, ohne von etwas aufgehalten zu werden.
    Aber andere Kinder mochten den Bach auch, zum Waten und Spritzen, um Flusskrebse zu jagen. »Warum läufst du so komisch?«, fragte ein Junge eines Tages und schubste sie dann hinunter in das feuchte Laub und den Matsch des Bachbetts.
    Sofort war Robert zur Stelle und riss den Jungen an einer Schlaufe seiner zu kurzen Hose hoch. »Lass sie in Ruhe.« Und danach ließen die Kinder sie tatsächlich in Ruhe, wenn sie sie auch betrachteten, wie man vielleicht eine Missgeburt im Zirkus betrachten würde. Sie hatte Bilder vom Zirkus in der Schule gesehen. Sie interessierte sich vor allem für die Mienen der Menschen im Publikum. Neugierig und ein wenig ängstlich. Sie gewöhnte sich daran, von Leuten auf diese Art angesehen zu werden.
    Lesen fiel ihr leicht, und sie war eine gute Schülerin, noch etwas, das sie seltsam machte. Sie war glücklich in der Schule, bis Robert nicht mehr hinging. Das war ein paar Monate nachdem sie eingeschult worden war. Als wäre die Sache nun, da er den Weg für sie geebnet hatte, für ihn erledigt.
    »Dein Bruder ist ein Herumtreiber«, sagte ein älteres Mädchen ein paar Jahre später, als sie fast zwölf war, zu Sarah. Der Klang ihres Atems und das Glänzen in ihren Augen, als sie das sagte, riefen wieder die Angst ihrer Mama in Sarah wach. Ich wette, du weißt nicht mal, was das Wort bedeutet, dachte sie, sagte es aber nicht. Sie hatte gesehen, wie ältere Mädchen ihren Bruder betrachteten und sein offenes Lächeln anhimmelten, seinen langsamen, verträumten Gang.
    Sarah humpelte und entwickelte sich nicht wie andere Mädchen ihres Alters, sah nicht aus wie sie, sprach nicht wie sie. Sie sonderte sich ab. Doch was andere Kinder in ihrer Straße oder deren Eltern auch sagen mochten, ganz so seltsam war sie nicht. Noch nicht. Das wurde sie erst, als Robert starb.
    »Dein Bruder ist ein Herumtreiber.«
    Er spielte den Blues, hieß es, manchmal sogar im weit entfernten Lexington. Aber im Morgengrauen kam er immer zurück, schlief ein paar Stunden und dann arbeitete er den ganzen Tag an der Seite ihres Vaters.
    Es hatte also etwas mit der Musik zu tun, und auch mit dem großen, schlank muskulösen, fast erwachsenen Mann, zu dem er geworden war. Dem perfekten, etwas schüchternen Lächeln, das seine feinen Gesichtszüge erhellte.
    »Weiße Frauen gehen in diese Spelunken, nur um ihre Freunde eifersüchtig zu machen.« Wieder dasselbe ältere Mädchen in der Schule, ein anderes Mal. »Dein Bruder sollte besser auf sich aufpassen.«
    Die Black Pool Road, in der sie wohnten, endete am Bach. Das letzte Stück verlief an ein paar Äckern und dann an einem Wäldchen entlang. Einige große alte Bäume am Straßenrand. Samstagmorgens, bevor die anderen Kinder kamen, spazierte Sarah dorthin, um der Stille zu lauschen, die Fische zu beobachten, unter dem Papayabaum zu sitzen. Vielleicht war sie inzwischen zu alt für solche Dinge in jenem Frühling, mit fast zwölf. Der Hartriegel stand kurz vor der Blüte. Krähen verdrängten bereits die hübscher zwitschernden Vögel kurz nach Tagesanbruch. Möglicherweise, wenn sie nicht so klein und still, in Wahrheit vielleicht schon ein wenig seltsam gewesen wäre, dann wäre sie nicht zum Bach gelaufen, als die Sonne noch kaum am Himmel stand, an einem Samstagmorgen. Und möglicherweise hätte dann jemand anderes gefunden, was von ihrem Bruder Robert übrig war, der an einem Seil hing, das um den dicksten Ast eines knospenden Ahorns geknüpft war.
    Was hängt denn da? Das war ihr einziger Gedanke. Das Einzige, woran sie sich je erinnerte. Immer noch beschämend. Was um alles in der Welt wächst da an dem großen alten Ahorn?
    Und dann war Tante Paulie zurück. Dieses Mal für immer, sagte sie. »Ich kümmere mich um dich«, flüsterte sie, aber Sarah nahm an, dass sie mit jemand anderem sprach, da sie das Gefühl hatte, sie selbst wäre bereits tot, bereits auf dem Weg zu Robert.
    Paulie schenkte ihr ein Notizbüchlein. »Hier kannst du

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