Wie ein Fremder in der Nacht: Roman (German Edition)
bekommen, als sie zählen konnte.
»Die Shaker waren bekannt für ihr hochwertiges Saatgut, müssen Sie wissen«, fuhr Nora fort, »und sie haben alle möglichen Kräuter gezüchtet und für alles Mögliche benutzt, sogar als Arzneien. Ich werde in diesem Frühjahr einen wunderschönen Shaker-Garten vor dem Haus anlegen.« Dann warf sie sich der Länge nach auf das Sofa im Salon, umgeben von ihren Katalogen, und bat Vista, ihr die Sherryflasche und ein Glas zu bringen, obwohl es erst zwei Uhr nachmittags war.
Kräuter als Arzneien waren für Vista nicht sonderlich verblüffend, denn sie war oft mit Grandma Marthie den Berg hinaufgestiegen, um Wurmkraut und Schafgarbenwurzel zur Linderung ihrer Gicht oder im Winter gegen Husten als Beigabe für den Tee zu sammeln. Aber Geld an einen Versandhandel zu schicken, um Samen für solche Sachen zu bestellen, kam ihr albern und wie eine Verschwendung vor. Sie wusste, dass in der Nähe des ehemaligen Wohnhauses der Hauptfamilie wilder Männertreu wuchs, und im letzten Herbst hatte sie reichlich Lebermoos und Stechwinde im Wald unterhalb des Shawnee Creek entdeckt.
Doch das galt in den Augen einer Frau aus den Bergen auch für drei neue Kleider in einer Woche oder Alkohol am helllichten Tag, dachte Vista seufzend, während sie in die Küche ging, um eins der Gläser zu holen, die Nora gern mochte.
Als das Saatgut schließlich mit der Post kam, schien Nora es kaum zur Kenntnis zu nehmen. Vista hob die drei kleinen Schachteln, in denen die Samen waren, für Maze auf, weil ihre Tochter gern Dinge sammelte, wenn sie mit den anderen Kindern am Bach oder im Wald herumstreunte – Kiefernzapfen, Steine mit Fossilien aus dem Bachbett, die Schwanzfeder eines Streifenkauzes. Nora jedoch hatte das Interesse an ihrem Shaker-Garten verloren, wie es aussah. Bereits im April, nur wenige Wochen vor der Pflanzzeit, wie Vista sie zu erinnern versuchte, hatte Nora in der Regel schon nachmittags einen trüben Blick vom Trinken.
Russell verbrachte mehr und mehr Zeit in seinem Büro in Lexington. Was genau Russell eigentlich machte, verstand Vista nie, und es war Nora, die ihr den Eindruck vermittelte, dass »Büro« nur ein Codewort für etwas anderes sei. Die Wohnung einer Frau vielleicht oder, wie Nora es bezeichnete, die Behausung einer »alten Bergarbeiterhure«.
Anfangs hatte Vista sich gefragt, wo die Anziehung gelegen haben mochte. Sie selbst empfand Russell Taylor als unerträglich steif und förmlich. Ein kalter Fisch. Doch im Laufe ihrer ersten Wochen im Shaker Inn, wo sie ihn bei Partys mit den vielen Freunden und Angehörigen des Paares beobachtete, als die beiden ihr Leben als Gastgeber und sogar einander gelegentlich noch zu genießen schienen, glaubte Vista hin und wieder, es sehen zu können. Es war nicht in Worte zu fassen, etwas träge Verführerisches in seinem Lächeln, ein Lockern seines zugegebenermaßen attraktiven kantigen Kinns. Sein dünner, aber kräftiger Körper, der in den legeren, teuren Hemden und Hosen, die er an Wochenenden trug, am besten zur Geltung kam.
Darüber hinaus war es zweifelsohne die verlässliche Anziehungskraft und das unerschütterliche Selbstvertrauen eines Mannes mit Geld und Macht. Sie hatte das bei den Männern gesehen, die im Beau Rive Hotel abstiegen, und sie hatte über sich selbst gelacht, über das arme, in der Küche versteckte Mädchen aus dem Kohlenrevier, wenn sie beim Anblick dieser Männer in ihren gebügelten Anzügen und goldenen Manschettenknöpfen ein Verlangen in sich aufwallen spürte. Sie schaffte es ja nicht einmal, einen Hungerleider wie Nicklaus Jansen zu halten. Welche Macht könnte sie je über einen solchen Mann ausüben?
Ursprünglich hatte Nora vorgehabt, ein Buch zu schreiben, erzählte sie. Und anfangs hatte sie ihr Projekt tatsächlich mit einem gewissen Eifer verfolgt. In jenem ersten Frühling – dem Frühling, als die berühmten Malven gepflanzt und das neu erworbene Shaker Inn mit einer wilden Mischung aus üppigen Teppichen, Kristall und Silber, mit Shaker-Stühlen und ovalen Holzschachteln eingerichtet wurde – hatte sie sich eine Romanhandlung über eine junge Shaker-Anhängerin in Pleasant Hill gegen Ende des vergangenen Jahrhunderts ausgedacht. Seit ihrer eigenen Ankunft im Herbst jedoch hatte Vista Nora nie daran arbeiten sehen.
»Warum schreiben Sie nicht weiter an Ihrem Buch über die Shaker?«, fragte Vista Nora eines Morgens im April. Sie könne doch die eine noch verbliebene, Schwester
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