Wie ein Fremder in der Nacht: Roman (German Edition)
erfuhr. Ungefähr die Hälfte war aus freien Stücken gegangen, weil sie Noras und Russells ständige Einmischungen und pingelige Anforderungen nicht ertragen konnte, ganz zu schweigen von denen ihrer Gäste. Der Rest war entlassen worden, wenn Russell feststellte, dass sie nicht in der Lage waren, seinen sorgfältig getippten, zwei Seiten langen Allgemeinen Anweisungen für jeden Wochentag nachzukommen. Wann Frühstücks-, Wohn- oder Esszimmer zu fegen und abzustauben waren (denn wie sich herausstellte, umfasste die Stelle der Köchin beträchtlich mehr als nur Kochen), welcher Saft an welchem Tag zu welcher Mahlzeit zu servieren war und in welchem Glas und neben welchem Teller, sowie die Reihenfolge und Art und Weise, in der das gute Porzellan, Kristall und Silber zu spülen, abzutrocknen und vorsichtig weggeräumt zu werden hatten.
Vista strengte sich an, Russells Allgemeine Anweisungen auswendig zu lernen, und versuchte, sich all die Einmischungen und Vorschläge nicht zu Herzen zu nehmen, denn sie wusste, es durfte nicht schiefgehen. Wo sollte sie denn sonst hin? Zurück ins Beau Rive Hotel konnte sie vermutlich nicht. Sie hatte von Shade Nixon seit dem Tag, als sie und Maze weggezogen waren, kein Wort gehört.
Und so erschöpft sie oft auch war, ihr Zimmer war wundervoll, und abends konnte sie, falls sie nicht zu müde war, an dem großen Tisch sitzen und lesen, wenn sie sich aus den vielen Büchern im Regal eines ausgesucht hatte. Manchmal, unerklärlich und ohne Vorwarnung, platzte Nora in die Küche, während Vista und Myron, der Junge, der beim Servieren half, noch aufräumten. Mit brennenden Wangen und flackernden Augen, der Atem süß vom Wein, schleppte sie Vista in den Salon, goss ihr ein Glas Sherry ein und beteiligte sie an den abendlichen Scharaden. Oder – noch häufiger – sie bat Vista, Maze zu wecken und in den Salon zu bringen, wo Nora das schlaftrunkene Kind streichelte und hätschelte, als wäre es ihr eigenes, stolz ihre hübschen Locken vorzeigte und lachend die Geschichte ihres Namens für die versammelten Gäste zum Besten gab.
Bei diesen Anlässen, wenn alle so beschwipst und überschwänglich waren wie ihre Gastgeberin, behandelten sie Vista wie eine Freundin, einen weiteren Gast – selbst diejenigen, die sie noch wenige Stunden zuvor wortlos mit einem Fingerschnippen aufgefordert hatten, ihren Teller abzutragen, oder ungeduldig nach ihr oder Myron gerufen hatten, weil Butter oder Kaffeesahne fehlte.
Doch dann gingen die Feiertage zu Ende. Es war Winter, und der Winter im Grasland, wo Vista und Maze jetzt wohnten, war anders. Er war kahl und still. Es fiel auch Schnee, allerdings nur eine dünne Schicht, nicht genug, dass Maze Schneeengel machen konnte, von einem Schneemann ganz zu schweigen. Da nur so wenige Gäste da waren, gab es in der Küche nichts zu tun und nicht einmal frischen Schmutz oder Staub nach Russell Taylors peniblem Arbeitsplan zu bekämpfen.
Also putzte Vista über den Staub hinaus. Der vordere Salon des Gasthauses funkelte im Winterlicht, das durch die breiten Fenster hereinfiel, ungefähr so blitzblank, wie es damals, als die Ost-Familie der Shaker noch dort wohnte, gewesen sein musste, wie man ihr erzählt hatte. Sie schrubbte Fußböden und polierte Silber und las Maze jeden Nachmittag Bücher vor, und im ersten Monat des Jahres sah sie Nora nur selten, da sie den Großteil der Woche nach Silvester mit einer Erkältung und einem Stapel Zeitschriften im Bett verbrachte und im Anschluss daran zu einem ausgedehnten Besuch bei ihren Eltern aufbrach. Unterdessen fuhr Russell zu Freunden in Lexington und ging vorher mit Vista eine lange Liste getippter Instruktionen durch, was zu tun wäre, falls in seiner Abwesenheit irgendwelche Gäste einträfen. Er hätte sich keine Gedanken machen müssen. Zwischen Neujahr und Anfang März musste Vista lediglich einmal ein schnelles Essen für zwei Geschäftsleute aus Lexington kochen, die abends auf dem Heimweg hungrig an der Tür läuteten.
Als Nora aus Louisville zurückkam, besaß sie etwas mehr Energie. Sie besaß außerdem drei neue Kleider – für Vista schon in normalen Zeiten völlig fremd, aber wahrhaftig unfassbar seit dem Ausbruch des Krieges. Und sie hatte einen Stapel Saatkataloge dabei.
»Wissen Sie, meine Malven sind im letzten Sommer zwei Meter hoch geworden«, sagte sie, und Vista nickte nur. Sie hatte das bereits mehrmals gehört und die Bilder im Fotoalbum seit dem vergangenen Herbst öfter gezeigt
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