Wie ein Fremder in der Nacht: Roman (German Edition)
Georgia, befragen, wie es fünfzig Jahre zuvor gewesen sei, sagte Vista. Ihrem Aussehen nach sei sie bestimmt alt genug, um sich an diese Zeiten zu erinnern.
Doch Nora winkte nur ab. »Sie ist erst hergekommen, als sie schon älter war, als fast alle gestorben waren. Aus dem seltsamen alten Vogel kriege ich keine guten Geschichten raus.«
Schwester Georgia war wirklich eigenartig, das war nicht zu leugnen, mit ihren altmodischen Kleidern und dem steifen Shaker-Häubchen, in dem sie zweimal täglich über die Hauptstraße zum alten Gemeindehaus lief und dabei vor sich hin murmelte. Oder vielleicht sprach sie auch mit ihren Shaker-Geistern. Vista hatte sie im Gemeindehaus tanzen und klatschen gehört. Und einmal, kurz nach ihrer und Mazes Ankunft in Pleasant Hill, war Vista auf der Suche nach wilden Brombeeren auf einen Hügel hinter der Schwesternwerkstatt gewandert, wo die alte Frau wohnte. Als sie den Gipfel erreichte, sah sie vor sich Schwester Georgia auf einer Lichtung wie ein Derwisch in Kreisen herumwirbeln und mit geschlossenen Augen leise ein seltsames Lied summen.
Merkwürdig war sie, das schon, aber keine Bedrohung. Vista stellte fest, dass es stimmte, was all die anderen Bewohner von Shakertown sagten. Diese Leute nickten immer oder tippten sich an den Hut, wenn sie Schwester Georgia begegneten, und sie nickte zurück, lächelte aber nie, außer bei den Kindern. Die Kinder liebte sie, und da die anderen Eltern ihren Kindern erlaubten, ihre Ingwerlimonade zu trinken und die Pfefferminzbonbons zu essen, die Schwester Georgia nach einem alten Shaker-Rezept herstellte, erlaubte Vista Maze diese Dinge ebenfalls. Schwester Georgia schien die kleine Maze ganz besonders ins Herz geschlossen zu haben, die Wiesenblumensträuße für die alte Frau pflückte und ihr die Wange küsste, unaufgefordert und ohne Angst.
War es ihre Zuneigung zu Maze, die die alte Frau veranlasste, Vista eines Morgens im Mai anzusprechen? Das fragte Vista sich später. Und woher um alles in der Welt hatte Schwester Georgia gewusst, dass sie es genau an jenem speziellen, schicksalhaften Tag tun musste?
Inzwischen trank Nora stetig, und sie war boshaft geworden, nicht nur Russell, sondern auch Vista gegenüber. Sie kommandierte sie herum wie eine Dienstbotin und machte sich über ihren »Ost-Kentucky«-Akzent lustig. Selbst Maze gegenüber war sie manchmal so, obwohl jeder aufgebrachten Zurechtweisung des Kindes sofort Tränen und Reue folgten, und im Anschluss ausgiebige Anfälle von Selbstverachtung: »Ich weiß, ich bin furchtbar, er hat mit allem Recht, was er sagt, ich verdiene es nicht, ein eigenes Kind zu haben.« Vista war langsam erschöpft von der Anstrengung, ihre Tochter zu schützen und sie von Noras torkelndem Weg vom Sofa im Salon zum Getränkeschrank in der Küche und zurück fernzuhalten. Da in jenem Frühling keine Gäste im Shaker Inn abgestiegen waren, hatte Vista sich angewöhnt, Maze am Nachmittag, bevor Russell aus Lexington zurückkehrte – Noras schlimmster Zeit des Tages –, zu Freundinnen nach Hause zu schicken.
Dennoch gab es auch bessere Tage. Tage, an denen Nora weniger trank und mehr schlief, oder die seltenen Momente, wenn sie sich anzog und zum Mittagessen oder ins Kino nach Harrodsburg fuhr. Sonnige Frühlingsvormittage, an denen das Haus leer war und Vista im Garten arbeiten konnte, wo die Vögel überall um sie herum laut sangen und der Duft von Flieder in der Luft lag. Doch auch solche Tage bargen ihre Gefahren – zu viel Zeit nachzudenken, zu viel Zeit, Nicklaus Jansen zu vermissen, sich ihre tiefe Einsamkeit und ihre Angst vor dem, was als Nächstes passieren würde, einzugestehen. Wohin, außer in eine verfallende Hütte in einem trostlosen Tal, konnten sie und Maze von hier aus schon gehen?
Jener spezielle Tag im Mai hätte sich in beide Richtungen entwickeln können. Zu einem guten Tag, weil er ruhig war und weil Vista gleichzeitig vielleicht genug zu tun finden würde, um nicht allzu viel nachzudenken. Dass Nora so früh schon nach Harrodsburg gefahren war, zweifellos um Alkohol zu kaufen, war an sich ein schlechtes Zeichen. Doch vielleicht, so hoffte Vista, würde sie noch etwas länger in der Stadt bleiben, um sich die Haare und die Nägel im Salon des Beau Rive Hotels machen zu lassen. Dann brächte sie möglicherweise wenigstens Neuigkeiten von Shade Nixon mit.
Vista beschloss, unterdessen zu tun, was sie konnte. Sie würde die beiden Blumenbeete des Ost-Familienhauses jäten und
Weitere Kostenlose Bücher