Wie ein Fremder in der Nacht: Roman (German Edition)
umgraben. Dann könnte Nora ihre längst vergessenen Malven darin pflanzen.
Der Vormittag wich dem Mittag, und da Maze den Tag bei ihrer Freundin Rosie verbrachte, ließ Vista das Mittagessen ausfallen und arbeitete trotz der Hitze weiter. Das Unkraut wuchs dicht, die Erde war trocken und hart, und die Arbeit ging langsam voran. Als sie schließlich eine kurze Pause machte, um die Beine auszustrecken und sich die feuchten Locken aus dem Gesicht zu streichen, die sich aus dem Tuch um ihre Haare gelöst hatten, schrak sie zusammen. Schwester Georgia stand neben dem Zaun am Rande des Grundstücks und beobachtete sie.
»Ich wollte Ihnen keine Angst einjagen«, sagte Schwester Georgia. »Ich bin nur gekommen, um zu sagen …« An dieser Stelle brach sie mit verwirrter Miene ab, als hätte sie vergessen, warum sie gekommen war.
»Ma’am?« Vista ging auf die alte Frau zu und streckte eine Hand nach ihr aus, vielleicht war sie ja krank.
Da sah Schwester Georgia Vista an, und während sie ihre Hand zurückwies, wurden ihre Augen klar. Es waren durchdringende Augen. Vista hatte das Gefühl, die Frau würde durch sie hindurchblicken oder doch tief in sie hinein und dort nach etwas suchen. Nach ihrer Seele, falls sie so etwas besaß. Vielleicht versuchte sie, all ihre Sünden zusammenzuzählen.
»Ich wollte sagen, ich glaube nicht, dass Russell und Nora Taylor das Beste für Sie oder für Ihr Kind im Sinn haben. Es mag Ihnen unwahrscheinlich vorkommen, aber ich habe auch Geld. Ich könnte Sie bezahlen und Ihnen und Ihrer Tochter eine Unterkunft zur Verfügung stellen. Das kann ich Ihnen anbieten, falls Sie interessiert wären.«
Vista starrte sie an, immer noch verunsichert von ihren klaren Augen, die nicht blinzelten. Bestimmt waren sie eigentlich braun, aber für Vista sahen sie schwarz aus. Ihr Gesicht hatte eine seltsame Energie, beinahe eine Jugendlichkeit. Irgendwie wirkte sie alterslos. Sie stand jetzt ganz aufrecht, ohne im Geringsten zu schwanken, und Vista war verblüfft, wie stark sie zu sein schien – stark und groß, überhaupt nicht gebeugt oder gekrümmt von Arthritis oder Rheumatismus wie Grandma Marthie, wie alle anderen alten Frauen, die Vista kannte.
Und was für ein merkwürdiges Angebot. »Also, danke, Ma’am«, begann sie bemüht höflich. »Aber ich meine …« Doch ehe sie den Satz beenden konnte, drehte Schwester Georgia sich um und ging schnell weg.
Danach arbeitete Vista verbissen weiter, fest entschlossen, die geisterhafte Erscheinung der alten Frau abzuschütteln. War das gerade überhaupt passiert, oder setzte ihr nur die Hitze zu? Bei der Vorstellung, zu der verrückten alten Frau zu ziehen, lachte sie vor sich hin und schlug mit ihrer Hacke auf die harte Erde, während der Schweiß ihr den Rücken hinunterrann.
Sie arbeitete ohne Pause. Die Klinge der Hacke schnitt fester und tiefer ein, energischer denn je wollte sie diesen Tag zu einem guten Tag machen. Gerade war sie mit dem vorderen Beet fertig und lief nach hinten in den Garten, um dort weiterzugraben, als Nora in die Einfahrt bog.
Das erste Anzeichen dafür, dass es möglicherweise doch kein guter Tag war, war das Auftauchen von Russells Cadillac nicht weit hinter dem von Nora. Obwohl sie erhitzt und müde war und dringend ein Glas Wasser brauchte, arbeitete Vista weiter. Sie wollte das stickige Innere des Hauses noch ein Weilchen meiden. Als ihr Durst sie schließlich doch zur Hintertür trieb, stellte sie erschrocken fest, dass Nora und Russell beide in der Küche waren, lachten wie Kinder und gerade den Korken ihrer, wie es den Anschein hatte, zweiten Flasche Sekt knallen ließen.
»Vista!«, rief Nora, als sie sie an der Tür bemerkte. »Vista, meine Liebe, kommen Sie doch rein und trinken Sie ein Glas mit uns!« Und ehe sie es sich versah, hatte Vista einen Wasserkelch aus Kristallglas voller Sekt in der Hand (eine schwerwiegende Verletzung der Etikette, wie Vista aus Russells Instruktionen wusste) und stieß auf etwas oder jemanden – wer oder was war nicht klar – an, während Nora in ihren wunderschönen seidenbestrumpften Füßen durch die Küche tänzelte und Russell ihr dabei zusah, während er mit undurchdringlicher Miene langsam aus seinem eigenen Kelch trank.
Später würde Vista der Hitze, ihrem Durst, ihrer eigenen Verwirrung und Beklommenheit in dieser für sie seltsamen, peinlich intimen und gleichzeitig merkwürdig kalten Atmosphäre die Schuld geben. Was auch immer der Grund war – und vielleicht lag es
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