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Wie ein Fremder in der Nacht: Roman (German Edition)

Wie ein Fremder in der Nacht: Roman (German Edition)

Titel: Wie ein Fremder in der Nacht: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joyce Hinnefeld
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davon abhielt, sich gänzlich zu ergeben und seinen Kuss zu erwidern, ihre Zunge zu benutzen wie er seine, war die jähe, entsetzte Feststellung, dass sie sich übergeben musste. Erneut löste sie sich von ihm, gerade noch rechtzeitig, um zurück um die Ecke der Werkstatt zu stürzen und dort, vom Shaker Inn aus gut sichtbar, zu würgen.
    Als sie fertig war, hob sie den Kopf und sah Russell zurück zur Küchentür torkeln. Und dann, obwohl sie später glaubte, sie musste sich das eingebildet haben (denn sie schlief doch sicher noch fest auf dem Sofa?), hätte sie schwören können, dass Nora dort innen im Halbdunkel des Hintereingangs stand, ihren Mann auf sich zukommen sah und sich umdrehte, sobald er die Tür erreicht hatte.

Pilger und Fremde
    1962
    S ie führten sie vor wie ein Dressurpferd. Eine Zirkusnummer. Wenn sie gebeten wurde zu spielen, spielte sie – die Walzer, Debussy, die Etüde von Chopin, die sie inzwischen perfekt beherrschte.
    Sie berichteten von ihrem perfekten Notendurchschnitt, bevor sie anfing, jedes Mal. Sie war außergewöhnlich! Eine bemerkenswerte Ausnahme! Sicherlich doch ein Beweis für etwas, für die Richtigkeit der Mission des College. Jungfräulich und rein noch dazu. Fleißig. Hervorragend am Klavier, auf dem sie keine »Rassenmusik« spielte, sondern Klassik.
    Unablässig sah Mary Elizabeth vor ihrem geistigen Auge die Hände des jungen Mannes über die Tasten schweben, aus solch großer Entfernung, von den Plätzen ganz hinten, auf denen sie und Tante Paulie gesessen hatten. Und doch hatte sie das Gefühl, unmittelbar dort zu sein, neben ihm oder irgendwie in ihm, ihre Hände, seine Hände, über die Tasten perlend wie Regentropfen. Finger wie die Beine eines Rennpferds.
    Sie dachte, wenn sie die französischen Komponisten spielen konnte und nun auch Strawinsky, die Stücke, die Tante Paulie zu ihrem Bedauern nie gelernt hatte, könnte die Musik irgendwie immer noch ihr gehören. Ihr und Tante Paulie. Jene Jahre in Paris, das Sehnen in Paulies Brust, in ihrer beider Brust, wenn sie spielten. Manchmal, wenn sie Chopin spielte, saß Mary Elizabeth hinterher am Klavier und weinte.
    Doch es war eine komische Sache: Sie konnte den Strawinsky nicht spielen. Sie wusste jetzt, dass sie es nie können würde.
    Nur den ersten Satz, sagte Mr Roth, die Danse Russe . Dann die schon vertraute Chopin-Etüde, aber auch ein neues Stück, eines der Préludes , das ebenfalls viel Üben erforderte. Von Januar bis zum Konzert im Mai jeden Tag mindestens sechs Stunden – vor dem Frühstück, vor dem Abendessen, vor dem Schlafengehen, gelernt werden musste irgendwann anders. Er habe nie auch nur mit dem Gedanken gespielt, Petruschka zu spielen, erzählte er eines Tages. Er lachte, als er das sagte.
    Am Abend des Konzerts – einem verträumten Maiabend, das Magnolienlaub knisterte unter ihren Füßen, und zum ersten Mal seit Wochen, seit Monaten, nahm sie ihre Umgebung wahr – war der Hörsaal des Musikgebäudes voll. Geladene Gäste, Rektor und Vorstandsmitglieder mitsamt den Gattinnen in leichten Kostümen und Perlen und Hüten. Jeder einzelne Musikstudent, Maze und Harris Whitman und ihre Freunde, alle unbehaglich in ihren Strumpfhosen und Kleidern und Krawatten. Ihr Daddy und ihre Mama in der ersten Reihe. »Gleich neben dem Rektor«, würde er allen am Sonntag in der Kirche erzählen. »Genau neben ihm.«
    Was für eine Qual das alles für ihre arme Mama sein musste, dachte Mary Elizabeth, als sie am Rand der Bühne stand und hinaussah. Sie blieb dort stehen, nachdem sie angekündigt worden war, und starrte hinaus in den großen, halbdunklen Raum, vor ihr der Steinway, in weißes Licht gehüllt. Sie betrachtete ihre Hände, während alles verstummte.
    Und dann drehte sie sich um und ging hinter den Vorhang auf der Rückseite der Bühne und von da durch den Hintereingang des Gebäudes hinaus. Sie hatte die Augen weit geöffnet, sah alles, hörte aber nichts, den ganzen Weg zurück zum Wohnheim, wo sie sorgfältig den Rest ihrer Sachen packte.
    Maze fand sie schließlich auf dem Rücksitz des Wagens ihres Daddys auf dem Parkplatz des Wohnheims, die Hände im Schoß gefaltet. Wartend.

Sarah
    1939–1945
    A ls ihr Daddy schließlich sagte: »Das Mädchen muss selbst entscheiden« und sie mit einer Traurigkeit betrachtete, die sie nicht verstehen konnte, sah sie Tante Paulie wieder die Augen verdrehen und zischen: »Sie ist ein Kind .« Dann wandte sie sich zu ihrer Mama um, die leise weinte und sie

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