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Wie ein Fremder in der Nacht: Roman (German Edition)

Wie ein Fremder in der Nacht: Roman (German Edition)

Titel: Wie ein Fremder in der Nacht: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joyce Hinnefeld
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hat, die Last abzuwerfen, die sie trug.«
    Was auch immer das sein mochte, dachte Mary Elizabeth. »Warum muss sie immer so einen Wirbel darum machen, dass sie ›kohlrabenschwarz‹ war?«, fragte sie Maze.
    »Das weiß ich nicht, M. E.« Maze zuckte die Achseln. »Es scheint wichtig für sie zu sein. Warum, kann ich dir auch nicht sagen.«
    »Wer um Himmels willen ist diese verrückte alte Frau?«, fragte Reverend Cox nun, während sie darauf warteten, dass Schwester Georgia vor ihnen die Straße überquerte. »Und was soll das, dieses Häubchen auf dem Kopf bei der Hitze?«
    »Das ist Schwester Georgia«, sagte Mary Elizabeth und winkte kurz, obwohl sie wusste, dass Georgia sie nicht sehen würde. Dann blickte sie aus dem Fenster. Im Geiste dachte sie an die vergangene Woche und noch weiter zurück. Nachdem sie auf die Schnellstraße gebogen waren und etwas beschleunigt hatten, drehte sie sich zu ihrem Vater um.
    »Daddy, warum steht oben auf dem Dachboden eine Gitarre«, fragte sie, »bei Tante Paulies Sachen?«

Schwester
    1908–1911
    S ie war nicht schön, nicht einmal in ihrer Jugend. Das war Georginea immer bewusst gewesen, aber es spielte kaum eine Rolle. »Du bist ein Geschenk Gottes für mich«, hatte ihr Vater fast täglich zu seiner Tochter gesagt, als sie noch ein Mädchen war, »du hast den feurigen Geist deines Großvaters in dir. Du wirst dich wütend gegen Ungerechtigkeit auflehnen, genau wie er es getan hat.«
    Und daher schien ihre große Gestalt mit den kräftigen Knochen gut geeignet für sie, passend für die Arbeit, die vor ihr lag. Als sie an jenem ersten Tag nach der Chorprobe mit Tobias Jewell spazieren ging, war sie völlig verblüfft, ihn sagen zu hören: »Du bist so schön wie ein Engel.« Sie musste ihn bitten, das noch einmal zu wiederholen.
    Im Alter von sechsunddreißig hätte sie sein können, was man eine stattliche Frau nannte – üppig, gesund, kräftige Gliedmaßen –, hätte sie nicht (unter kühner Missachtung des Kodex von Berea) jegliche körperliche Bewegung eingestellt und nur noch genug gegessen, um zu überleben. Bei ihrer Statur wirkte sie dadurch nicht dünn, sondern eher schlecht proportioniert. Kopf und Augen thronten groß über dem kantigen Körper. Ihr Gesicht behielt merkwürdigerweise das Runde und Weiche. Im Frühjahr 1908 schienen in ihren Augen, obwohl sie häufig rot gerändert und tief in die Höhlen gesunken waren, unberechenbare Flammen zu tanzen. Tatsächlich hatten die meisten Studentinnen im Wohnheim Angst vor ihr, und selbst die Rektorin zog es am Ende vor, ihr aus dem Weg zu gehen.
    Sie packte ihre Tasche und fuhr mit dem Zug nach Lexington zu ihrer Tante Lenora, die inzwischen verwitwet war und täglich von ihrem Sohn, Georgineas Cousin Tilden Rose, versorgt wurde.
    »Sieh nur, was sie mit dir gemacht haben, Georginea – von dir ist ja kaum noch etwas übrig, und so danken sie es dir. Bei mir bist du besser aufgehoben, das habe ich schon immer gesagt.«
    Jede Spur von dem Wind und dem Licht, die Georginea begrüßt hatten, als sie an jenem letzten Tag aus ihrem Unterrichtsraum eskortiert worden war, die überwältigende Freiheit des Aufbegehrens und der Poesie, die sie wie auf einer Wolke getragen hatte, war längst verschwunden. Als sie sich in Tante Lenoras Wohnzimmer mit dem ganzen polierten Messing und dunklen Mahagoni, dem schweren Brokat und der viktorianischen Üppigkeit, umsah, konnte sie plötzlich kaum noch atmen und sank zurück in das schwarze, bodenlose Loch des Sommers vor ihrer Abreise aus dem Haus ihres Vaters nach Berea.
    Sie brachte ihre Augen zur Ruhe, indem sie sie auf ihre eigenen Hände im Schoß richtete, die seltsam fischartig auf sie wirkten, wie tote, nutzlose Tiere, vollständig von ihrem Geist abgetrennt, von dem, was wahrhaft sie ausmachte. So bekam sie schließlich genug Luft, um heiser zu flüstern: »Ich werde mir Arbeit suchen müssen.« Es war, das wusste sie, das Einzige, was sie retten konnte. Als ihre Tante entrüstet keuchte und ungläubig fragte, ob man sie an ihr Erbe erinnern musste – das ganze Eisenbahngeld, das ihr Vater all die Jahre kaum angetastet hatte –, hob Georginea den Kopf und brachte ihre Tante mit einem brennenden Blick zum Schweigen. Diese merkwürdigen, verstörenden Augen wieder. Allmählich entdeckte sie ihre eigenartige Macht.
    Tilden Rose wusste von einer Stelle an einer höheren Schule, die die Schwester seiner Frau besuchte, und im Herbst 1909 war Georginea erneut Miss Ward, die

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