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Wie ein Fremder in der Nacht: Roman (German Edition)

Wie ein Fremder in der Nacht: Roman (German Edition)

Titel: Wie ein Fremder in der Nacht: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joyce Hinnefeld
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ernsthafte und traurige Literaturlehrerin, dieses Mal am Beau Rive Daughters’ College in der Nähe von Harrodsburg in Kentucky, das »Kunst, Rhetorik, ein Musikkonservatorium und die stärksten Literaturkurse zur Vorbereitung auf die besten amerikanischen und europäischen Universitäten« anbot. Ihre Schülerinnen waren ausnahmslos die Töchter von Plantagenbesitzern aus Kentucky – die Enkelinnen von Kentuckys reichsten Sklavenhaltern.
    Gleich bei ihrem ersten Treffen mit Colonel und Mrs Bryant, den Eigentümern und einzigen anderen Lehrenden am College, wurde ihr zu verstehen gegeben, dass die »radikale« Geisteshaltung, von der sie in Berea umgeben gewesen war, bei den Schülerinnen des Daughters’ College ziemlich unangebracht wäre. Als die beiden fragten, ob sie noch mehr sagen müssten, versicherte Georginea ihnen, das sei nicht nötig.
    Ohne sonderliche Leidenschaft las sie ihren Schülerinnen den späten Wordsworth vor, während sie über ihren Handarbeiten dösten. Und im Frühling des zweiten Jahrs im Beau Rive war sie zu dem Schluss gekommen – irrtümlicherweise, wie sich herausstellte –, dass ihr eigentlich nichts mehr zu tun blieb, als zu sterben.
    Es war Mrs Bryant, die ihr den Vorschlag machte, sich ein Wochenende im nahe gelegenen Shaker Inn zu erholen, dem ehemaligen Wohnhaus der Ost-Familie der United Society of Believers in Christ’s Second Appearing . Früher einmal waren in dem Gebäude weibliche Shaker jedes Alters untergebracht, doch inzwischen war es ein öffentlicher Gasthof, den die wenigen überlebenden Mitglieder der Religionsgruppe betrieben.
    »Das würde Ihnen ja so guttun, Georginea«, sagte Mrs Bryant eines Morgens beim Frühstück gegen Ende März. »Ich erinnere mich an wundervolle Ausflüge dorthin, als ich noch ein Mädchen war. Schwester Jane bereitete immer ganz herrliche Mahlzeiten für die jungen Leute zu, und mehr als einer von uns hat auf diesem Weg seinen Partner kennengelernt.« An dieser Stelle schien sie Georginea zuzuzwinkern, die nicht begriff, warum sie ihr das erzählte. »Wir fuhren auf dem Wagen und lachten und sangen. Es war eine fabelhafte Zeit zum Jungsein. Dort habe ich auch Colonel Bryant kennengelernt, wissen Sie«, flüsterte sie verschwörerisch.
    Ein Wochenende im Shaker Inn wäre Georginea normalerweise wie ein grotesker Vorschlag erschienen. (»Keine Zeit ist gut zum Jungsein«, war alles, was sie an jenem Tag zu Mrs Bryant gesagt hatte, woraufhin die Frau theatralisch seufzend vom Tisch aufgestanden war.) Einfach grotesk, wäre da nicht eine Fotografie gewesen, die sie bei sich trug, seit sie ein Kind war. Sie war etwas unscharf und von ihrem Onkel Tilden aus zu großer Distanz aufgenommen, mit einer neuen Kamera, mit der er nicht richtig umgehen konnte, wie sie feststellte, als sie älter wurde und seine Fotos nicht besser. Aber sie hatte das Bild immer bei sich gehabt, in Oberlin und Berea und im Beau Rive Daughters’ College, als Erinnerung an eine merkwürdige Reise im Alter von fünf oder sechs, die wie durch einen Nebel von Zeit zu Zeit traumähnlich an die Oberfläche ihres Bewusstseins trieb.
    Die Reise hatte während eines ihrer Sommeraufenthalte bei ihrer Tante, ihrem Onkel und ihrem Cousin in Lexington stattgefunden. Sie waren mit dem Zug gefahren, und Georginea erinnerte sich noch an die aufregende Überquerung der hohen, schmalen Brücke über den Kentucky River, von Jessamine County nach Mercer County. Noch nie hatte sie eine so steile und felsige Böschung an einem Fluss gesehen wie die Kentucky River Palisades, so ganz anders als die glatte Ebene am Ufer des Ohio zu Hause in Cincinnati.
    Auf dem Foto stand sie mit einer schwarzen Schleife im Haar mit dem Rücken zur Kamera und spähte durch einen Zaun. Rechts neben ihr war ihre Tante Lenora mit dem kleinen Tilden Rose auf dem Arm. Links von ihr stand eine ältere Frau mit einer steifen Schürze und einem merkwürdigen kleinen Häubchen fest auf beiden Beinen und blickte in die Kamera, als würde sie ihr oder vielleicht auch ihrem Besitzer nicht ganz trauen. Die kleine Georginea sah durch den Zaun zum Fluss; sie alle standen in der Nähe der alten Walkmühle. Viele Jahre später würde Schwester Mary ihr zärtlich lächelnd erzählen, dass die ältere Frau Schwester Hortency Hooser gewesen war.
    Als die Erinnerung an diesen Besuch nun durch den Dunst der jüngeren Ereignisse schwebte, war es allerdings nicht Schwester Hortency, die Georginea ins Gedächtnis kam. Es war der

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