Wie ein Fremder in der Nacht: Roman (German Edition)
Anblick sich rasch bewegender Füße und Hände, der Klang von Klatschen und Stampfen, aber nicht wie das Klatschen und Stampfen, das sie von den Tanzabenden zu Hause kannte. Zwar war es auf die gleiche Weise rhythmisch, aber merkwürdiger. Sie hatte sich mit Lenora, Tilden, Tilden Rose und einer größeren Gruppe weiterer neugieriger Zuschauer einen Shaker-Gottesdienst angesehen. Es waren nur wenige Shaker, die da tanzten, höchstens ein Dutzend, nicht annähernd ein solches Gedränge wie bei den spirituellen Zusammenkünften in den Jahren von Mutter Anns Arbeit. Aber dennoch, diese zehn oder zwölf Shaker veranstalteten ein lautes und eindringliches Gepolter auf dem Holzfußboden des Gemeindehauses – so laut und eindringlich, dass Georginea es über dreißig Jahre lang nicht vergaß.
Damals hatten sie ihr Angst gemacht, dennoch trug sie diese Fotografie stets bei sich. Von diesem Ausflug war ihr vor allem der Hohn ihres Vaters im Gedächtnis geblieben, als er erfuhr, wohin ihre Tante und ihr Onkel mit ihr gefahren waren. »Kein Wunder, dass nur noch zehn übrig sind«, hatte er geschnaubt. »Nennen sich die Auserwählten Gottes, dabei widersetzen sie sich ganz eindeutig seinem Willen. Ich hätte wissen müssen, dass ich dich nicht eine Woche lang dieser Frau anvertrauen darf.« Georginea hatte die Shaker nie wieder erwähnt.
Dreißig Jahre später, als sie mit trockenem Mund und dick bandagierten Handgelenken in ihrem Bett im Shaker Inn aufwachte, saß Schwester Mary nähend an ihrem Bett. Ehe Georginea sprechen konnte, bot die alte Frau ihr einen Schluck von einem seltsamen und streng schmeckenden Tee an – von derselben milchig braunen Farbe wie der Bach – und tätschelte dann sanft ihren Arm. »Es scheint, dass etwas dich zu uns geführt hat, Kind.«
»Ich kannte den Fluss hier, und die Eisenbahnbrücke«, flüsterte Georginea. »Und den Bach – ich wusste genau, wo der Bach war und dass ich dorthin musste.«
Sie verstummte und erinnerte sich. Tatsächlich hatte sie offenbar instinktiv den Weg zum Fluss gefunden, zu den bröckelnden Überresten der Walkmühle – und später, mit schwirrendem Kopf, einem verschwommenen Gefühl von Wut und Angst und Verzweiflung und von ihrem Blut befleckt, zum schlammigen Ufer des Shawnee Run.
Schwester Mary war diejenige gewesen, die sie bei ihrer Ankunft im Shaker Inn begrüßt und ihr ein Glas Ingwerlimonade angeboten hatte. Es erschreckte sie, es jetzt zu erkennen, sich an die eigenartige Erregung zu erinnern, die sie ergriffen hatte, als sie ihre Tasche die Stufen hinauf und über die Schwelle dieses merkwürdig vertrauten Gasthofs trug.
Dieser innere Aufruhr hielt an, als sie auf ihr Zimmer geführt wurde – die ganze Zeit hatte sie das Gefühl, kaum Luft zu bekommen –, und er trieb sie hinaus, sobald Schwester Mary sie allein ließ, trieb sie blind auf den Pfad zum Fluss, der jetzt unter einem Gewirr von Unkraut und Dornenzweigen, die sich in ihrem Rock und den Strümpfen verhakten, kaum zu sehen war. Und dann, als sie die Ruine der Mühle und den Zaun erreichte, durch den sie als Kind auf dem Foto gespäht hatte, konnte sie flussaufwärts zu ihrer Linken die hohe rostige Eisenbahnbrücke monströs und erschreckend nah sehen. Und sie hörte ihr eigenes Herz in den Ohren dröhnen, dröhnen wie die Füße der Shaker vor all den Jahren, und in seinem Pochen vernahm sie die Stimmen und spürte den heißen, muffigen Atem zahlloser Männer in schwarzen Mänteln – Bereas Rektor, Colonel Bryant mit einem geladenen Gewehr, das blasse Gesicht ihres Vaters, das sich vor Abscheu über sie verzerrte, über ihren weiblichen Geruch und ihre weiblichen Bedürfnisse, die Augen ihres Großvaters, die aus dem gerahmten Foto im Flur ihres Elternhauses funkelten.
Und so schnell sie gekommen war, so schnell war sie wieder weg, rannte vor dem wirren Strudel ihrer eigenen Gedanken fort, zurück auf den von Unkraut überwucherten Pfad, am Shaker Inn vorbei und auf der anderen Seite auf einen ebenen Weg. Plötzlich stand sie am Ufer des ruhig fließenden Shawnee Run. Der Geruch von nassem Schlamm drang in ihre Nase. Die feuchte, schwere Luft schmerzte ihre Lunge. Die unerträgliche Nähe von allem war so vertraut und so passend für das, was sie zu tun hatte. In ihrer Tasche tastete sie nach den Klingen, die sie an jenem Morgen aus ihrer Kommode genommen hatte. Ohne nachzudenken tauchte sie ihre Handgelenke in das eisige Wasser, zog sie wieder heraus, eine nach der anderen, und
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