Wie ein Fremder in der Nacht: Roman (German Edition)
schlitzte zwei rasche Schnitte in die Adern. Als das Blut hervorsprudelte wie ein lang aufgestauter Fluss, keuchte sie verblüfft vor Erleichterung auf.
Als sie später mit Schmerzen und trockenem Mund in ihrem sauberen, schmalen Bett lag, empfand sie Ekel bei der Erinnerung an diese plötzliche Flut. Nicht vor dem, was sie getan hatte, sondern vor dem, was ihr nicht gelungen war, vor dem, was sie nun erwartete, da sie nicht gestorben war und weiterleben musste.
Bei ihrer Ankunft damals in Beau Rive hatte sie sich geschworen zu schweigen. Ihren Schülerinnen harmlose Gedichte über die Natur und Gott vorzulesen und sich nicht von deren Unkenntnis der Welt um sie herum stören zu lassen. Sie verstand durchaus die implizierte Drohung der Bryants in ihrer Erwähnung der »radikalen Ideen« eines Ortes wie des Berea College. Und sie erschauerte bei der Vorstellung, überhaupt keine eigene Arbeit zu haben, ihre Tage bei Teegesellschaften und Mittagessen im stickigen Haus ihrer Tante Lenora in Lexington zu fristen. Also hatte sie sich zunächst still verhalten.
Bis sie allmählich erkannte, dass Schweigen an einem Ort wie dem Beau Rive Daughters’ College sich kaum davon unterschied, im Halbschlaf Damengesellschaften in Lexington über sich ergehen zu lassen. Sie spürte, wie das schwarze Loch sie wieder verschlang, hörte, wie die bedrohlichen Krähen sie auf den Ästen vor ihrem Fenster verspotteten, und sie erneut krank vor Kopfschmerzen wurde und aus rätselhaften Träumen erwachte.
Sie begann ganz unschuldig – ein paar Gedichte von Blake, etwas von Stowe, einige kurze Schriften von John Fee, dem Gründer von Berea. Als sie bemerkte, dass hin und wieder eine junge Frau mit Neugier von ihrer Handarbeit aufblickte – bei seltenen Gelegenheiten sogar mit sichtlichem Interesse –, fing sie an, die jeweiligen Schülerinnen zu einem Nachmittagsspaziergang auf dem Collegegelände oder zu einer heimlichen Tasse Tee auf ihr Zimmer einzuladen. Dort empfahl sie weiterführende Bücher und Schriften und fragte die staunenden jungen Frauen, was sie eigentlich über die gewalttätige Geschichte ihres eigenen Heimatstaates wussten.
Die meisten dieser Schülerinnen behielten die seltsamen Leidenschaften der Miss Ward für sich. Wie faszinierend sie sie auch finden mochten, sie fürchteten sie gleichzeitig und machten sich insgeheim Gedanken über ihren wahren geistigen und körperlichen Zustand. Gelegentlich beschwerten sich andere Schülerinnen bei den Bryants über die eigenartigen Neigungen ihrer Lehrerin, ihre merkwürdige Auswahl an Lesestoff in ihren Literatur- und Stilistikkursen. Im Winter ihres zweiten Jahres in Beau Rive erhielt Georginea zunehmend scharfe Warnungen von Colonel Bryant und seiner Gattin.
Doch es war Jessamine Parks, die schüchterne, klumpfüßige Tochter eines der reichsten Landbesitzer von Mercer County, die – gänzlich unbeabsichtigt – Georgineas Verzweiflungstat auslöste. Sie war ein Neuzugang in Georgineas zweitem Jahr als Lehrerin dort und, als Bücherwurm, verkrüppelt und unmöglich zu verheiraten, erkennbar ein Sorgenkind für ihre Familie. Jahre später erst konnte Georgia schließlich über den zornigen Mut lächeln, mit dem das Mädchen seinen Vater eines Abends bei einem großen Familientreffen fragte, ob ihm eigentlich bewusst sei, dass Harriet Beecher Stowe die Shelbys, die Sklavenhalterfamilie im Anfangskapitel von Onkel Toms Hütte , einer echten Sklavenhalterfamilie im Herzen von Kentuckys Grasland nachempfunden habe. Ja, einer Familie, die große Ähnlichkeit mit ihrer eigenen habe, wie sie ihrem Vater und seiner versammelten Familie erklärte.
Kurz darauf erhielt Georginea einen Brief von Mr Henry Wyatt Parks, der sie mit unmissverständlichen Worten an ein weiteres wichtiges Merkmal der Geschichte des Staates Kentucky erinnerte: die Bereitschaft seiner Söhne und Töchter, sich mit allen erforderlichen Mitteln gefährlicher und unerwünschter Eindringlinge – »seien es Ausländer, Farbige oder Nordstaatler« – in ihrer Mitte zu entledigen.
Die Drohung war eindeutig für Georginea, und nun wurden ihre Träume noch dunkler, bevölkert von baumelnden Leichen und tobenden Bränden und – seltsamerweise – Schusswaffen, die plötzlich in ihren eigenen Händen auftauchten. Wenn Jessamine Parks am stillen, späten Nachmittag erwartungsvoll an ihre Tür klopfte, um sich zu unterhalten und weitere Bücher auszuleihen, stotterte sie nervös und stolperte über ihre eigenen
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