Wie ein Fremder in der Nacht: Roman (German Edition)
passiert?«, platzte Mary Elizabeth von einem jähen Weinkrampf ergriffen mit tränenerstickter Stimme heraus.
Clarisa blieb stehen und sah Mary Elizabeth fragend von der Seite an. »Du weißt nicht viel über sie, oder?«
Mary Elizabeth schluckte die Tränen herunter und versuchte, die würdevolle Miene aufzusetzen, die ihr Daddy von ihr erwarten würde. »Du meinst über ihre Anfälle? Darüber weiß ich alles – ich war doch diejenige, die sie jedes Mal ins Bett gebracht hat, wenn sie einen hatte.« Sie bemühte sich, ihre Stimme ruhig zu halten. Es machte sie wütend, dass diese Frau, die Sarah Cox seit Kindertagen kaum mehr erlebt hatte, ihr unterstellte, ihre eigene Mutter nicht zu kennen, nach all den Jahren, in denen sie sich um sie gekümmert hatte und zusammen mit ihrem Daddy gekämpft hatte, ihr sinnloses Flüstern und das endlose Schluchzen im Schlafzimmer vor dem Rest der Welt zu verbergen.
»Ihre Anfälle ?«, erwiderte Clarisa da, und ihr breites Gesicht verzog sich zu einem eigenartigen Lächeln. Sie schüttelte den Kopf. »Nein, Kind, ich rede von keinen Anfällen.«
Mary Elizabeth starrte auf den Boden, über den sie lief. »Ich weiß, dass sie mehr als einmal versucht hat, sich umzubringen, falls du das meinst.«
Erneut schüttelte Clarisa den Kopf und schnalzte mit der Zunge. »Meine Güte, Mädchen«, sagte sie. »Er hat dir überhaupt nichts erzählt, stimmt’s?«
Und an jenem Tag, auf dem Heimweg von Stanfords Farbigenheim durch einen stürmischen Wind mit vereinzelten Schneeflocken, hörte Mary Elizabeth zum ersten Mal in ihrem Leben und von jemandem, der tatsächlich dabei gewesen war, vom früheren, glücklicheren Leben ihrer Mutter. Einem Leben voller Sonnenschein und Musik, in dem sie mit Clarisa und ihren Brüdern über Wiesen gerannt war, Flusskrebse im Bach nahe der Hütten ihrer Eltern gefangen und abends am Feuer Geschichten und Liedern gelauscht hatte. Wie sie selbst habe auch Sarah ihrer Mama in der Küche geholfen, erzählte Clarisa, und dann gewartet, dass ihr Daddy und ihr großer Bruder, ein Junge mit liebem Gesicht, der Gitarre spielte, von den Feldern zurückkehrten.
Doch all das änderte sich für Sarah Cox eines sonnigen Morgens im Jahre 1935, als sie auf dem Weg zum Bach auf die schlimm verbrannte Leiche ihres achtzehnjährigen Bruders stieß, die an einem am Rande der Schotterstraße um einen Ast geknüpften Strick hing.
»Ich denke mal, sie wusste erst überhaupt nicht, was das ist«, sagte Clarisa. »Man hat uns später erzählt, dass das Einzige, was nicht bis zur Unkenntlichkeit verbrannt war, sein Gesicht war.«
»Wer hat ihm das angetan?«, fragte Mary Elizabeth. Jetzt spürte sie den Wind nicht einmal mehr, der so stark war, dass sie beide ihre flatternden Mäntel und Schals festhalten mussten.
»Wahrscheinlich ein paar betrunkene Jungs aus Lexington, die in der Kneipe gewesen waren, in der er an dem Abend gespielt hat. Sie wurden nie geschnappt.«
Später würde es Mary Elizabeth entsetzen, sich an dieses Gespräch zu erinnern, sich selbst die Frage stellen zu hören, die sie als Nächstes stellte. »Warum haben sie das mit ihm gemacht – was hatte er getan?« Doch das war es, was ihr Daddy ihr beigebracht hatte, und auch alle anderen in der Big Hill Christian Church in Richmond. Solche Dinge passierten, ja. Aber der Herr passte auf die auf, die rechtschaffen lebten und um seine Führung baten. Nur Neger, die Widerworte gaben oder aus der Reihe tanzten, riskierten solche Gefahren, versicherte George seiner Gemeinde. Solange sie unter sich blieben und ihre Zunge hüteten, waren sie sicher.
Clarisa wirkte nicht überrascht über die Frage. Sie betrachtete Mary Elizabeth mit einem seltsamen, fast mitleidigen Blick, wandte dann den Kopf nach vorn und ging wieder weiter. »Ich nehme mal an, dass er überhaupt nichts gemacht hatte«, sagte sie durch zusammengebissene Zähne.
Den Rest des Wegs zu Clarisas Haus zog Mary Elizabeth ihren Mantel so fest um sich, wie sie nur konnte. Sie war nicht sicher, ob sie Clarisa Pool glaubte. Nicht sie, dachte sie die ganze Zeit. Nicht ihre Familie.
Aber hatte sie es nicht immer gewusst, irgendwie? Die Tränen in Tante Paulies Augen an jenem Abend in Cincinnati, nach dem Konzert. Mary Elizabeth hatte damals gedacht, es läge daran, dass sie selbst gern dort auf der Bühne gespielt hätte. Ihr Gesichtsausdruck, als Mary Elizabeth ihrer Tante in die Augen gesehen und gefragt hatte: »Warum bist du zurückgekommen? Warum
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