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Wie ein Fremder in der Nacht: Roman (German Edition)

Wie ein Fremder in der Nacht: Roman (German Edition)

Titel: Wie ein Fremder in der Nacht: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joyce Hinnefeld
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bist du nicht in Paris geblieben und hast mehr gelernt und gespielt?«
    Tante Paulie hatte sich die Hand auf den Mund gelegt und ein Schluchzen unterdrückt. Es machte Mary Elizabeth Angst, sie so zu sehen, doch sie versuchte, es sich nicht anmerken zu lassen. Damals war sie schon zwölf, beinahe eine Frau, stark und gut.
    »Wegen deiner Mama«, hatte Tante Paulie ihr leise in ihre Hand flüsternd gesagt. »Wegen Robert …« Mit plötzlich großen Augen hatte sie Mary Elizabeth erschrocken angesehen und dann abrupt abgebrochen. Sie hatte Mary Elizabeth in eine feste Umarmung gezogen, wieder losgelassen und anschließend den Pullover und die Tasche genommen. »Komm, wir gehen«, hatte sie gesagt. »Sonst verpassen wir noch unseren Bus.«
    Mary Elizabeth hatte sie nie gefragt, was sie damit gemeint hatte. Sie wusste, dass keine Fragen erwünscht waren. Der Bruder ihrer Mama, Robert, sei gestorben, als Sarah zwölf war, so alt wie Mary Elizabeth damals, und das habe ihrer Mama das Herz gebrochen, hatte ihr Daddy ihr erzählt. Es sei etwas, worüber sie nicht sprechen sollten.
    Sie sollte keine weiteren Fragen stellen. Sie war zwölf und beinahe eine Frau. Stark und gut. Und sie würde Klavier spielen wie der Mann, den sie gerade auf der Bühne gesehen hatte.
    Sechs Monate später starb Tante Paulie.
    Nun hatte Clarisa Mühe, mit Mary Elizabeth Schritt zu halten, sie konnte die keuchenden Atemzüge der schweren Frau hinter sich hören. »Ich weiß, dass er glaubt, es sei besser für dich, nichts davon zu wissen«, sagte Clarisa. »Und eine Zeitlang habe ich das verstanden. Aber du bist jetzt alt genug, um es zu erfahren. Es hat keinen Zweck, noch länger zu lügen.«
    Mary Elizabeth zog die Schultern hoch. Der stechende Schmerz kehrte ganz plötzlich zurück, als sie durch Clarisas Haustür traten, aus ihren Überschuhen stiegen und ihre Mäntel und Schals aufhängten. Clarisa redete schon wieder, kaum dass die Tür hinter ihnen ins Schloss gefallen war. Mary Elizabeth versuchte, nicht zuzuhören, konnte sie aber nicht ausblenden. »Dein Daddy hat deine Mama geheiratet, als sie fast noch ein Kind war. Er war damals schon Prediger, und er hatte seine Kirche drüben in Richmond.«
    Clarisa machte eine Pause, nahm ihre Brille ab, wischte sie an ihrer Bluse ab und setzte sie wieder auf. Vielleicht liegt es daran, dachte Mary Elizabeth. Vielleicht konnte sie nicht gut genug sehen. Sonst müsste sie doch bemerken, dass Mary Elizabeths Augen flehten – sosehr sie selbst innerlich flehte, die Frau möge aufhören und nicht noch mehr erzählen.
    »Dein Daddy hat zum Daddy deiner Mama gesagt, er will sie aus der Black Pool Road wegbringen, bevor der ganze Kummer sie noch auffrisst«, fuhr Clarisa fort. »Und der Daddy deiner Mama hat eingewilligt, sie gehen zu lassen. Die Wahrheit ist, dass dein Daddy nach seiner Ausbildung zum Prediger nicht viel von der Familie deiner Mama gehalten hat, besonders nicht von der Familie väterlicherseits. Die Schwester deines Großvaters, deine Tante Paulie, war aus Paris zurückgekommen und hatte verkündet, dass sie nie wieder einen Fuß in eine Kirche setzen würde. Ich kann mir vorstellen, dass dein Daddy empört war, aber wenn er was von Sarah wollte, kam er an ihr nicht vorbei. Dafür hat Paulie gesorgt.
    Deine Mama war aber ganz anders als Paulie.« Jetzt klang Clarisas Stimme plötzlich weich. »Sie war schüchtern und lieb, die ganze Zeit, selbst als sie komisch wurde und all die Jahre damals nicht gesprochen hat.« An dieser Stelle hielt sie inne und musterte Mary Elizabeth eingehend. »Du schlägst nach beiden«, sagte sie. »Nach deiner Mama und ihrer Mama, und natürlich auch nach deinem Daddy. Obwohl ich mir ab und zu einbilde, ich könnte in deinen Augen ein Fünkchen sehen, was mich an den Daddy deiner Mama erinnert. Armer alter Mr Henry. Welchen Kummer er erleben musste, erst Robert zu verlieren und dann die ganzen Schwierigkeiten mit deiner Mama …«
    Mary Elizabeth wappnete sich für mehr Gräuel. Würde Clarisas Erzählung jemals ein Ende nehmen? Ihr war schwindlig und ein bisschen schlecht, und sie lehnte sich an die Wand.
    »Das Herz deiner Mama wurde mehr als einmal gebrochen.« Clarisa schüttelte den Kopf. »Es heißt, sie hat mehrere Kinder verloren, bevor du geboren wurdest. Und dann ist ihr Daddy gestorben und ihre Mama nicht lang danach. Erinnerst du dich überhaupt noch an deine Oma, Mary Elizabeth?«
    »Kaum«, flüsterte Mary Elizabeth. Sie hatte undeutliche

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