Wie ein Fremder in der Nacht: Roman (German Edition)
eine große Kanne«, sagte sie. »Lass sie erst nur eine große Tasse trinken.«
Maze hatte den Tee dabei, und sie wusste, wie er anzuwenden war. Aber das hieß nicht, dass sie das auch vorhatte.
Während sie über alles sprach, was ihr nur einfiel, dämmerte es allmählich in dem vollgestopften Wohnzimmer des großen alten Hauses. Weder Mary Elizabeth noch Maze stand auf, um ein Licht anzuschalten. Bald darauf ging die Küchentür auf und Octavia Price kam herein, umgeben von einem hellen Schein aus Licht und Farbe. Sie warf einen Blick auf Maze und lud sie und Mary Elizabeth auf etwas Suppe und Brot in die Küche ein, was Maze dankbar annahm. Sie hatte zwar reichlich Proviant für die Busfahrt dabeigehabt – das Einzige, was sich außer dem Tee und einer Garnitur Wäsche zum Wechseln in ihrem Koffer befand. Doch inzwischen war sie trotzdem halb verhungert und müde und froh über die Unterbrechung.
Nach der Hälfte ihrer Suppe entschuldigte Mary Elizabeth sich und rannte die Treppe hinauf. Kurze Zeit später kehrte sie an den Tisch zurück und schob geschwächt die Schale von sich. Ihre Hand zitterte, als sie an ihrem Wasserglas nippte.
Octavia nahm einen großen Schluck aus ihrem Glas und blickte beim Trinken über den Rand hinweg von einer zur anderen. Dann stellte sie das Wasser langsam ab, ließ es aber nicht gleich wieder los. Schließlich wandte sie sich an Mary Elizabeth.
»Ich kenne jemanden, den ich anrufen könnte, wenn du möchtest.« Ihre Stimme klang bedächtig und klar. »Ich kann gleich morgen früh anrufen und den nächstmöglichen Termin für dich vereinbaren.« Dann stand sie auf, stapelte die Schüsseln ineinander und stellte sie ins Spülbecken. »Deine Freundin kann in dem leeren Zimmer neben deinem schlafen«, sagte sie auf dem Weg aus der Küche.
Danach wirkte Mary Elizabeth gelöster. Immer noch bleich, aber gelöster. Doch als Maze Eiswasser und ein Tuch für Mary Elizabeths Stirn holte, drangen Octavias Worte allmählich in ihr Bewusstsein, und ihr lief ein eisiger Schauer über den Rücken.
Oben in Mary Elizabeths Zimmer probierte sie es noch einmal mit einem unverfänglichen Gespräch, zumindest anfangs. Dann kam das »Aber es wird besser« – natürlich das völlig Falsche. Sie konnte nicht ertragen, von Mary Elizabeth so angesehen zu werden. Darum schloss sie kurz die Augen, machte sie wieder auf und sagte es.
»Du könntest dieses Kind bei uns bekommen, in Pleasant Hill.«
Immer noch starrte Mary Elizabeth sie an, ihre Augen wurden noch größer.
»Ich weiß, dass Schwester Georgia dich mit Freuden aufnehmen würde, und wir alle könnten dir helfen. Du wärst ein Teil von dem, was wir dort versuchen, Mary Elizabeth, was wir aufbauen wollen.« Dessen war sie sich weniger sicher, aber sie sagte es trotzdem. In Wahrheit sprachen Phil und Sarabeth schon davon wegzuziehen, und Daniel war noch unzugänglicher und verschlossener als früher.
Nun machte Mary Elizabeth die Augen zu und schüttelte den Kopf. »Maze«, sagte sie, »bitte fang nicht damit an.« Doch sie fing an, beide fingen sie an, und dann war es wieder wie in Berea, wenn sie Devil’s Slide oder Fat Man’s Misery erkletterten und atemlos um ihre Worte herumkeuchten.
»Es ist anders in Pleasant Hill, M. E. Es ist völlig anders als in Berea, und das, was wir dort machen, wird es sonst in ganz Kentucky nicht geben.«
»Hör auf, Maze.«
»Du hast Daniel nie eine richtige Chance gegeben, M. E.«
Ein kurzes, schrilles Lachen und ein Augenverdrehen. »Und Daniel wartet da unten in Pleasant Hill bestimmt nur darauf, dass ich mit meinem schwarzen Baby dort auftauche.«
»Das glaubst du also? Du glaubst, du und dein Baby wärt bei uns nicht willkommen, weil ihr schwarz seid?«
»Hör jetzt auf, Maze. Ich muss Kurse zu Ende bringen, verstehst du nicht? Ich habe Pläne, und es sind andere als deine . Warum kannst du das nicht begreifen? Warum konntest du das noch nie begreifen? Unter jedem Brief dein ›Ich wünschte, du wärest bei uns‹ … Wann hab ich dich je auf die Idee gebracht, ich wollte bei euch in eurem kleinen Utopia wohnen?«
Das brachte Maze zum Schweigen. Endlich hörte sie Mary Elizabeth, hörte die Entschlossenheit in ihrer Stimme, die Wut. Maze wusste, es hatte keinen Zweck mit ihrer Freundin zu streiten, eigentlich hatte sie das von Anfang an gewusst.
»Also gut«, sagte sie. »Also gut, M. E.« Sie stand von der Bettkante auf, um ihre Tränen zu verbergen.
»Es tut mir leid, Maze«, hörte sie
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