Wie ein Fremder in der Nacht: Roman (German Edition)
Mary Elizabeth sagen, obwohl sie nicht so klang, als täte es ihr sonderlich leid. »Aber ich bin einfach müde, mir ist schlecht, ich habe riesige Angst, und ich habe sehr viel zu erledigen.« Sie setzte sich auf und fing sich kurz, dann sammelte sie einen Stapel Bücher und Hefte vom Fußboden auf.
»Ich gehe nach unten und lerne«, sagte sie. Auf dem Weg zur Treppe zeigte sie auf das Zimmer nebenan. »Da drin steht ein Bett für dich. Ich glaube, es ist bezogen.«
»M. E.? Nur eins noch.«
»Ja, Maze, was denn?« Als spräche sie mit einem lästigen Kind.
»Ich hab gesehen, dass Miss Price ein Klavier hat. Spielst du noch mal für mich, ehe ich fahre? Und wenn nur ein paar Kirchenlieder?«
»Ich spiele nicht mehr Klavier, Maze. Dazu habe ich keine Zeit. Die alten Lieder kann ich schon gar nicht mehr.« Damit ging Mary Elizabeth die Treppe hinunter, schwer beladen mit Büchern und Unterlagen und die Hand auf dem Geländer, um sich abzustützen.
Später, während Mary Elizabeth lernte, holte Maze ein Kissen und eine Decke aus dem Nebenraum und machte sich einen Schlafplatz auf dem Fußboden in Mary Elizabeths Zimmer zurecht. Seit Wochen schlief sie nicht bequem in einem Bett. Am nächsten Morgen wachte sie auf, als ein Zettel unter Mary Elizabeths Tür durchgeschoben wurde, nur Zentimeter neben ihrem Gesicht.
»Mittwoch, 9 Uhr«, stand darauf. »Praxis ohne Türschild in der Halsted Street. Ich kann dich hinbringen.«
Maze setzte sich auf. Ein ängstliches Kribbeln stieg in ihrem steifen Nacken auf. Als Mary Elizabeth einige Minuten später die Augen aufschlug, gab Maze ihr den Zettel.
»Mach das nicht, M. E.«, sagte sie. »Ich kann dir heute Abend den Tee kochen.«
Nachdem Mary Elizabeth zum Unterricht gegangen war, lief Maze zur Ecke und fand eine Telefonzelle, um Vista anzurufen. Harris habe den Pick-up wieder in Gang gebracht, erzählte Vista. Er könne sie abholen, wenn sie fertig sei.
»Sag ihm, morgen gegen Mittag müsste ich so weit sein«, bat Maze. Und sie legte den Hörer auf und weinte.
Der Tee war dunkel, so dunkel, dass er in dem roten Keramikbecher, den Maze ihr reichte, schwarz aussah. Sein eigenartiger, stechender Geruch erinnerte Mary Elizabeth an das Wartezimmer des alten Doktor Samson in Richmond, als sie noch ein Kind war – eine Mischung aus Erde und Minze und chemischen Düften, die gleichzeitig tröstlich und furchteinflößend waren, wenn ihre Mama sie wegen eines plötzlichen Durchfalls oder Hustens dort hinbrachte.
Dann trank sie den Tee, nach einem vollen Unterrichtstag und zweimal Erbrechen und einem aus Salzcrackern bestehenden Abendessen mit Maze in einem Lokal in ihrer Straße. Aber sie trank ihn mehr für Maze als für sich. Mittlerweile war Mary Elizabeth zurück in der Welt, die sie kennen und schätzen gelernt hatte: einer Welt der rationalen Entscheidungen und klar umrissenen medizinischen Verfahren und Ergebnisse, einer Welt, in der es keinen Platz für Shaker-Voodoo wie diesen Tee gab, den sie noch eine Woche vorher haben zu wollen geglaubt hatte. Es gab zuverlässigere Wege, mit diesem Problem umzugehen, als den Hinterwäldlerhokuspokus, den Maze ihr anbot, und es war dumm von ihr gewesen, nicht zu glauben, dass Octavia sich in dieser Angelegenheit genauso besonnen und tatkräftig verhalten würde wie in allem anderen.
Aber es konnte ja nichts schaden, das Zeug zu trinken, dachte sie. Im schlimmsten Fall würde es sie einschläfern, wie der Baldriantee früher. Sie war erschöpft von den vergangenen eineinhalb Tagen mit Maze. Sie kam zu dem Schluss, dass sie Maze schon genug verletzt hatte, und deshalb würgte sie den ganzen bitteren Becher herunter, während sie die Notizen ihres Kurses in europäischer Geschichte überflog. Irgendwann verliefen die Worte auf der Seite ineinander, und sie schleppte sich ins Bett.
Dann schlief sie wirklich, vier Stunden lang, wachte kurz auf, zog ihr Nachthemd an und versuchte, noch etwas für ihre Prüfung am nächsten Tag zu lernen. Als sie am folgenden Morgen erneut wach wurde, war das Laken blutig, sie spürte einen stechenden Schmerz in Bauch und Oberschenkeln und fühlte sich schwächer und erschöpfter, als sie sich jemals zuvor im Leben gefühlt hatte.
Still weinend zog Maze die Bettwäsche ab, während Mary Elizabeth auf dem Boden saß und zusah. Sie traute ihren Augen kaum. Später brachte Maze die Wäsche in einen Waschsalon in der Nähe des Campus. Mary Elizabeth ging auf Maze gestützt zu Fuß zu ihrem Kurs, die
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