Wie ein Ruf in der Stille: Roman (German Edition)
mit allen Konsequenzen, überlegte sie. Sie sehnte sich danach, und im Grunde ihres Herzens war ihre Entscheidung bereits gefallen. Ihre moralischen Bedenken waren ausgelöscht. Zumal sie vor Gott und einem Geistlichen gelobt hatte, dass sie diesen Mann ihr Leben lang lieben würde. Ihrer Meinung nach war dieses Bekenntnis gültig und bindend.
Gleichwohl hatte er kein solches Bekenntnis abgelegt.
Sicher, er hatte den Schwur rezitiert, die altvertrauten Zeilen wiederholt, aber mit dem Herzen war er nicht dabei gewesen. Um sie zu schützen und aus Respekt vor ihren Eltern hatte er seine Rolle gespielt, und er hatte seine Sache gut gemacht. Lauri dagegen kannte seine wahre Motivation, die leider nicht von Liebe getragen war. Er hatte das Liebste verloren – darüber gab Lauri sich keinen Illusionen hin: Seine über alles geliebte Susan ruhte auf ewig in einem kühlen Grab.
In diesem Augenblick begehrte er sie. Sie fühlte die verzweifelte Sehnsucht, mit der er sie in seinen Armen schmiegte. Die Intensität seiner Küsse, die pure Leidenschaft verhießen. Wenn sie ihm jetzt nachgäbe, sinnierte sie fiebrig, wann würde dieses leidenschaftliche Begehren verpuffen? Wie lange würde es dauern, bis er sich in seine eigene Welt zurückzöge, genau wie Paul? Wenn sie seine Zuneigung
bräuchte, um ihre verletzte Seele zu streicheln, würde er dann für sie da sein? Sie bezweifelte es. Dieses Risiko durfte sie niemals eingehen. Lieber ein Leben ohne Liebe als einen mitleidigen Gefühlsabklatsch.
Unversehens wand sie sich hektisch in seiner Umarmung. Erst Momente später realisierte Drake, dass ihre Reaktion nicht etwa ungezügelter Leidenschaft entsprang. Nein, sie lehnte seine Zärtlichkeiten ab. Die Einsicht kam so überraschend, dass er sie spontan losließ. Sie stieß ihn von sich und lief aus dem Zimmer. Auf halbem Wege zur Treppe rief er ihren Namen.
Seine Stimme klang sinnlich, aber bestimmt. »Lauri.«
Sie blieb abrupt stehen. Drehte sich indes nicht um. Wenn sie ihn jetzt anschaute, würde sie mit fliegenden Fahnen kapitulieren. Warum sagte er nicht einfach, dass er sie liebte? Dann würde sie sich in seine Arme stürzen, erlöst von ihrer Seelenfolter. Sag mir, dass du mich liebst , flehte sie stumm.
»Lauri …« Er stockte, schien zu zögern. »Gute Nacht«, murmelte er resigniert.
Irgendwann in der Nacht wurde Lauri plötzlich wach. Sie schrak aus dem Tiefschlaf hoch, ahnte intuitiv, dass etwas nicht stimmte. Sie lauschte, vernahm aber kein ungewöhnliches Geräusch. Trotzdem schlug sie die Decken zurück und sprang aus dem Bett. Sie schnappte sich ihren Morgenmantel, der über einem Stuhl hing, streifte ihn über und glitt in den dunklen Flur.
Ihr erster Gedanke war Jennifer. Sie lief zum Zimmer der Kleinen. Das Bett war leer. Lauri kämpfte gegen die aufwallende
Panik an und durchquerte den Raum zu dem angeschlossenen Bad. Auch dort war Jennifer nicht.
In ihrer Hektik stolperte sie über den Saum ihres Morgenmantels, während sie die Treppe hinunterstürmte. Taumelte und hielt sich gerade noch rechtzeitig am Geländer fest, um einen schmerzhaften Sturz zu verhindern. Sie inspizierte die Zimmer im Parterre. Von Jennifer keine Spur. Sie vermutete – hoffte, dass das Kind aufgestanden war, um sich ein Glas Wasser oder einen Keks zu holen. Also lief sie in die Küche und machte Licht. Dort war Jennifer auch nicht, aber die Hintertür stand sperrangelweit offen. Kühle Nachtluft wehte herein. Lauris Herz setzte aus.
Entführt, schoss es ihr spontan durch den Kopf.
Drake war prominent, ein Star, der im Rampenlicht der Öffentlichkeit stand. Folglich wären er und seine Tochter ein perfektes Ziel für jemanden, der es auf ein hohes Lösegeld oder zweifelhafte Berühmtheit abgesehen hatte.
Ihr erster Impuls war, hinauszulaufen und das Kind auf eigene Faust zu suchen. Auf halbem Weg zur Hoftür verwarf sie den Gedanken wieder. Was, wenn sie noch da draußen wären? Sie würden sie mühelos überwältigen. Es war dunkel und kalt. Und sie hatte keine Waffe.
Sie lief in Drakes Zimmer, legte ihm ohne lange zu zögern eine Hand auf die nackte Schulter und schüttelte ihn heftig.
»Drake, wach auf!« Ihre Stimme überschlug sich beinahe vor Angst, mündete in ein heiseres Schluchzen. »Drake, bitte wach auf.«
Er schoss ruckartig hoch, musterte sie mit dem wirren, leeren, verstörten Blick eines Menschen, den man aus dem Tiefschlaf gerissen hat. »Lauri? Was … was ist denn?«
»Jennifer. Sie ist
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