Wie Fackeln im Sturm
Geschenk. Doch heute hatte der Mörder beinahe ihren Gemahl getötet; so wie er Luvena auf dem Gewissen hatte. Ihre leibliche Mutter war gestorben, als Willa das Licht der Welt erblickte. Ilbert war gestorben, während er sie bewacht hatte. Der Mann, der sie wie sein eigenes Kind großgezogen hatte, war vor wenigen Tagen aus dem Leben geschieden …
Willa konnte es nicht mehr länger ertragen, diejenigen zu verlieren, die ihr nahe standen.
Mit einem Seufzen sank sie auf die Bettkante. Ihre Gefühle für Hugh waren noch so neu und verwirrend. Schon als Mädchen hatte Willa geglaubt, in den Mann verliebt zu sein, bevor sie ihn überhaupt kennen gelernt hatte. Es war ihre Pflicht, ihren Gemahl zu lieben. Aber noch vor einigen Tagen hätte sein Tod sie vermutlich nicht so arg mitgenommen. Doch heute hatte sie eine furchtbare Angst verspürt, ihn zu verlieren. Willa wusste nicht, ob sie über den Tod von Hugh hinwegkommen würde. Ganz gewiss würde sie es nicht ertragen, wenn er jemandem zum Opfer fiele, der eigentlich ihr nach dem Leben trachtete.
Ein dumpfer Laut riss sie aus ihren Gedanken, und Willa blickte auf die Wand, die das Schlafgemach von der Herrenkammer trennte, in der Richard Hillcrest gewohnt hatte. Soweit ihr bekannt war, wurde die Kammer zurzeit nicht bewohnt, doch von dort waren eindeutig Schritte zu vernehmen. Sogleich war sie wieder auf den Beinen und schritt zur Tür. Vermutlich suchte Lord Wynekyn immer noch nach dem Brief, und da Willa jetzt jede Ablenkung willkommen war, freute sie sich auf ein Gespräch mit ihrem Onkel.
Als sie den Korridor betrat, war niemand zu sehen.
Willa glaubte sich zu erinnern, dass Hugh ihr gesagt hatte, er würde Baldulf hinauf schicken. Aber der Wächter war noch nicht da. Im Gang war es totenstill, und Willa stand im Dunkeln, als die Tür zum Schlafgemach hinter ihr zufiel. Alle anderen Türen waren geschlossen, und obgleich es noch nicht spät am Tag war, hätten die Fackeln in den eisernen Halterungen längst angezündet sein müssen.
Willa war auf halbem Weg zu Lord Richards Kammer, als ihr einfiel, dass die Fackeln gebrannt haben mussten, als sie vorhin den Gang betreten hatte, denn sonst wäre ihr die Dunkelheit bestimmt aufgefallen. Sie runzelte die Stirn; vielleicht irrte sie sich auch, denn als sie die Stufen hinaufgegangen war, war sie viel zu sehr in ihren trüben Gedanken gefangen gewesen. Willa zog in Erwägung, eine Kerze zu holen, und schaute zurück auf die Tür zum Schlafgemach. Dann spürte sie einen kalten Luftzug und erschauerte. Nun konnte sie sich die Dunkelheit im Gang erklären: Offenbar hatte ein Luftzug aus einem der Räume die Fackeln gelöscht.
Ein Geräusch an einer der Türen ließ sie angestrengt in die Dunkelheit spähen. Sie war sich sicher, dass der Laut von Lord Richards Tür gekommen war. „Lord Wynekyn?“ rief sie und versuchte, etwas in dem Gang zu erkennen.
Vorsichtig trat sie einen Schritt vor und tastete sich an der Wand entlang, bis sie das Holz der Tür fühlen konnte. Dort hielt sie inne und lauschte in die Dunkelheit hinein. Sie hätte schwören mögen, den Atem einer anderen Person zu hören. Wieder war ein Geräusch von einer der Türen zu vernehmen, und Willa spähte weiter in das Dunkel vor sich. Einen Moment lang lauschte sie, hörte jedoch nur das Pochen ihres eigenen Herzens. Eine innere Stimme mahnte sie zur Vorsicht.
Trotzdem griff Willa nach dem Türriegel. Gewiss war Lord Wynekyn in der Kammer und suchte im Schein einer Kerze nach dem Brief. Langsam öffnete sie die Tür, zögerte aber erneut, als sie die Schwelle betrat, denn sie sah keinen Kerzenschein. Unruhig ließ sie den Blick durch den Raum schweifen, in den schwaches Tageslicht durch einen dicken Vorhangstoff fiel. Die Kammer war kalt und schlecht gelüftet, aber offenbar war niemand da. Doch das machte sie nur noch unruhiger, denn sie war sich sicher, Schritte in diesem Raum gehört zu haben.
Erschrocken zuckte sie zusammen, als sie ein klapperndes Geräusch vom Fenster her vernahm. Doch schon im nächsten Augenblick lachte sie leise auf, als sie erkannte, dass ein Fenstervorhang aus der Halterung gerissen war. Die Blendläden standen offen und ließen das Tageslicht herein, und es war der rechte Blendladen, der im leichten Wind auf- und zuging. Vermutlich hatte sie dieses Geräusch von nebenan gehört.
Willa schalt sich eine Närrin, sich so rasch einschüchtern zu lassen, und durchquerte den Raum, um die Blendläden zu schließen.
„Willa!
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