... Wie Gespenster in der Nacht
die Augen zusammen, schaute genauer hin, aber erkennen konnte er absolut nichts. Er beugte sich vor, hoffte auf das angekündigte Wunder.
Ein dunkler Schemen erhob sich aus dem Wasser, nur wenige Meter entfernt. Ein schmaler Kopf saß auf einem schlanken Hals, der Hals so lang wie der Mast eines Schoners. Riesige schräg stehende Augen glühten wie flüssiges Gold auf, als der nächste Blitz über den Himmel zuckte. Während Jamie voller Entsetzen auf die Erscheinung starrte, hob sich ein gut dreißig Meter langer Schweif aus dem Wasser und peitschte über die Wellen.
Jamie schrie im gleichen Moment los wie Peter.
Es war eines der wenigen Male in ihrem bisherigen Leben, dass die beiden Brüder sich tatsächlich bei etwas vollkommen einig waren.
6. KAPITEL
F iona mochte hübsche Kleider. Als Kind hatte sie neutrale Farben und unauffällige Sachen getragen, weil ihre Mutter der Meinung war, es sei besser, keine Blicke auf einen Körper zu ziehen, der von Narben gezeichnet war. So war Fiona in langärmeligen Blusen aus blickdichtem Stoff und in Hosen aufgewachsen, die ihr Bein versteckten, aber nicht an der Haut rieben wie zum Beispiel enge Jeans. Nachdem man sie auf der kleinen Highschool immer wieder auf die Narben an ihrem Hals angesprochen hatte, war sie dann auch noch dazu übergegangen, Rollkragenpullover unter den Blusen zu tragen, um diese Male zu verstecken.
Erst auf dem College hatte sie begonnen, die Entscheidung ihrer Mutter infrage zu stellen. Ja, sie war von lodernden Flammen verbrannt worden, aber sie hatte überlebt. Gab es etwa irgendwo ein ungeschriebenes Gesetz, dass sie deshalb auf immer Trauer tragen musste, sozusagen als stete Erinnerung an ihre Vergangenheit? Bei ihrem ersten Einkaufsbummel, den sie alleine unternommen hatte, erstand sie einen korallenroten Angorapullover mit einem Kragen, der bis an ihr Kinn reichte, dazu passend einen rotbraun karierten Rock und braune Stiefel aus butterweichem Leder, die aufhörten, wo der Rocksaum begann.
Die kritische Musterung ihrer Mutter hatte ihr den nächsten Einkauf nicht unbedingt erleichtert. Doch Fiona hatte sich nicht entmutigen lassen, und so besaß sie inzwischen eine Garderobe, zusammengestellt aus hübschen, femininen Kleidungsstücken, die dennoch geschickt die unabänderliche Wahrheit kaschierten.
Diese unabänderliche Wahrheit – die harten Narben, das reduzierte Muskelgewebe und die geschädigten Gelenke, die nie wieder so funktionieren würden, wie sie sollten – musste für Andrew heute offensichtlich gewesen sein. Fiona wusste, was er erfahren hatte, als er ihre Wade und ihren Schenkel massierte. Das Wunder daran war, dass es ihm nichts ausgemacht hatte. Weder hatte er sie bemitleidet, noch hatte er seine Hände zurückgezogen.
Und danach hatten seine Augen so warm gestrahlt, als wäre es ihm ein Vergnügen gewesen, sie zu berühren – nicht ein Akt des Mitgefühls.
Was ein inneres Leuchten in ihr ausgelöst hatte, das sie den ganzen Weg zurück nach Druidheachd erfüllte. Selbst als plötzlich ein Sturm aufzog und sie zwang, ihr Tempo zu drosseln, leuchtete sie weiter. Als sie schließlich vor dem Hotel in Druidheachd ankamen, drehte Fiona sich im Sitz zu Andrew, um sich von ihm zu verabschieden. Es regnete noch immer, und es war dunkel geworden, aber im Schein der Straßenlaterne konnte sie Andrews Gesicht erkennen.
„Ich bin froh, dass wir hingefahren sind. Danke, dass du mich mitgenommen hast. Und das Essen war großartig, genauso gut, wie du versprochen hattest.“
„Ich will Sara nächste Woche wieder besuchen. Möchtest du mitkommen?“
„Wenn es keine Umstände für dich macht, gern.“ Sie wollte aussteigen, doch er legte seine Hand auf ihren Arm und hielt sie fest.
„Wieso sollte es mir Umstände machen?“
Stirnrunzelnd musterte sie ihn. Hier ging mehr vor sich als nur der Austausch von höflichen Floskeln. „Ich meine nur, wenn es ein Umweg für dich ist, mich abzuholen und zurückzubringen. Und wenn ich dich aufhalte …“
„Fiona.“ Er schüttelte den Kopf, und als er sprach, schwang Frustration und Verstehen in seiner Stimme mit. „Ist es das, was du von dir denkst? Dass du jemand bist, der andere aufhält? Hast du deshalb heute nicht gesagt, dass ich langsamer laufen soll? Sind dir die Schmerzen lieber?“
„Ich bin keine Masochistin, Andrew.“
„Habe ich das behauptet?“
„Ich ziehe immer den schmerzfreien Zustand vor. Das war nie anders.“
„Warum hast du dann nicht gesagt, dass
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