Wie ich nach Santiago de Compostela ging und ganz woanders ankam
überlege, ob ich nicht Spanisch lernen sollte, trippelt wieder Paul vor mir und ich schmettere unser Lied, in das er brummend einstimmt: „It’s a long way to Santiago….“.
„Weißt du, dass uns in Villalcázar de Sirga eine Templerkirche erwartet?“ Ha, die geheimnisumwitterten Templer! Pauls Frage reizt meine Neugier. „Was haben die hier in Spanien getan? Waren sie nicht nur in Frankreich und Jerusalem?“ „Sie hatten zwei Jahrhunderte Zeit, ihren Einfluss über Spanien bis Portugal auszudehnen, weil sie überall Ländereien geschenkt oder gestiftet bekamen. Europa war für ihre Kreuzzüge dankbar. Außerdem waren sie helle Köpfe, haben das Transport- und Finanzwesen in Europa kontrolliert. Kein Wunder, dass sie Adel und Klerus zu mächtig wurden und man sie seit dem 14. Jahrhundert verboten und ausgerottet hat.“ Seltsam, dass sie auch in der Neuzeit viele Menschen beschäftigen. Und seltsam, dass wir beide uns so gut verständigen können! Ob es wohl stimmt, dass der Orden im Geheimen weiterbesteht? Was für Ziele kann er in unserer heutigen Welt verfolgen? Bei allerlei Mutmaßungen haben wir den Kirchplatz des Ortes erreicht und sehen zwischen Touristen Eric, anscheinend relaxt bei Tapas und Espresso vor einer Bar sitzend. Wie ein Sonntagsspaziergänger. Nicht so verschwitzt, staubig und erschöpft wie ich, und obwohl er mich gestern so angerotzt hat, umarme ich ihn wie einen alten Freund. Irgendetwas an ihm mag ich.
„Kann ich meinen Rucksack bei dir lassen, während ich mir die Kirche ansehe?“ „Klar, lass dir Zeit“. Erleichtert trete ich durch die reich dekorierten Torbögen und eine ungewöhnlich hohe Vorhalle in die strenge Atmosphäre des imposanten Raums, in dem ein Organist den Hochzeitsmarsch übt. Und wieder kann ich Architektur und Ausstattung nur kurz genießen, weil mich die Pracht emotional erschlägt, kaufe mir eine deutschsprachige Beschreibung, gehe zurück in die Sonne, atme tief durch und sehe mich um.
Klasse, da ist ein Souvenirladen, vielleicht haben die ein Schreibheft, meins ist voll. Ja, es gibt welche, doch der Verkäufer möchte noch mehr Gutes tun und bedeutet mir, dass er ein rotes Jakobuskreuz auf die Muschel malen möchte, die an einer Lederschnur auf meinem Rucksack hängt. Oh nein. Diese Muschel existierte schon in meinem Elternhaus und ist in meinem bewegten Leben nicht verloren gegangen — als hätte sie darauf gewartet, mich zu Sankt Jakobus zu begleiten. Dabei hatte ich nie eine Ahnung, dass diese Art Muscheln Symbol für die Jakobuspilgerschaft sind — obwohl sie Jakobsmuscheln heißen; dass sie von den mittelalterlichen Pilgern als Beweis, ihr Ziel erreicht zu haben, mit nach Haus gebracht wurden und zeitweise als Pilgerausweis dienten. Natürlich liegt diesem ,Muschelmythos’ auch eine Legende zugrunde:
Als der Sarg mit Jakobus Leichnam nach der Fahrt über das Mittelmeer in Nordspanien an Land gebracht werden sollte, konnte ein Ritter die Begegnung nicht erwarten, ritt ins Meer dem Schiff entgegen, versank, und war bei seiner Rettung über und über mit diesen Muscheln bedeckt.
Seitdem gibt es sie überall auf dem Jakobsweg. Nicht nur auf fast jedem Rucksack, auch auf den Jakobusstandbildern, als Fassadendekoration und als Türdrücker, wirklich überall. Und meine, die schönste, bleibt so wie sie die letzten 50 Jahre war!
Keine Unterhaltung tröstet mich auf den letzten Kilometern in dieser Einöde, nichts lenkt mich ab. Nichts als Hitze, weit entfernte Baumreihen, gelegentlich ein Hügel und die Spitzen der Picos de Europa im Norden — 90 (neunzig!) Kilometer entfernt. Doch irgendwann tauchen endlich Klostermauern und Ruinen am Stadtrand von Carrión de los Condes auf. Weiter will ich heute nicht. Es soll hier ein Kloster geben. Gleich vorne links. Ja, da ist das geöffnete Tor zum Klosterhof, aber statt der hier lebenden Nonnen empfängt mich ein junger Mann, fragt, ob ich hier bleiben möchte, und leiert mit unbewegter Miene sein Angebot herunter: „Gute Betten in vier Räumen, Innenhof, Küche, sechs Duschen, sechs Toiletten“, und gibt mir eine Gebrauchsanweisung für die Tür. „Der Schlüssel für alle liegt in diesem offenen Fenster, leg ihn da immer gleich wieder hin, und wenn du hinausgehst, schließt du die Tür, indem du an diesem Ring in der Mitte ziehst.“ Aha. Alles klar. Dann führt er mich zwischen Rucksäcken, Stiefeln und Wäscheleinen, vorbei an Paul in riesigen Unterhosen, in eine enge Klosterzelle mit vergittertem
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