Wie ich nach Santiago de Compostela ging und ganz woanders ankam
Fenster und weist mir das Bett über dem schnarchenden Telefonbuchholländer zu. Wie soll ich da hoch kommen, ohne auf seine Matratze zu treten und ihn zu wecken? Na, dann schlafe ich jetzt nicht, ich fühle mich eh hitzegedörrt und staubig innen und außen, mein Kopf ist dumpf und mein Körper bestenfalls gefühllos. Da hilft nur duschen, ein großer Topf Tütennudelsuppe aus meiner Überlebensreserve und danach dösen; in einer schattigen Ecke des ruhigen Klosterhofes.
„Welcome.“ Graham stört mich, setzt sich neben mich, fragt wie es mir geht und wo ich letzte Nacht war, und ich frage ihn das gleiche. Wir amüsieren uns, weil er ein Sardinensandwich in der Gruselbar in Hontanas heruntergebracht hat, und dann erzählt er wieder ohne Umschweife Privates, von seinen Selbstzweifeln und Ängsten. „Was kann ich noch leisten? Meine Knie haben Arthrose, ich werde nie mehr Marathon laufen können, und im Job braucht man mich auch nicht mehr. Worauf kann ich noch stolz sein? Vielleicht kann ich wieder an mich glauben, wenn ich es schaffe, nach Santiago zu gehen.“
Armer Graham, so siehst du gar nicht aus.
„Gehst du heute Abend mit mir essen? Gegenüber der Kirche soll es ein gutes Restaurant geben.“ Soll das eine Einladung sein? „Wie nett, mal sehen, ich möchte aber unbedingt heut Abend in die Messe.“ Er macht mich verlegen. „Schau dir vorher die Stadt an, sie ist wunderschön.“ Danke für den Rat, ja, sie ist wirklich schön, genauso verwinkelt und alt wie die anderen, es gibt nur mehr Souvenirläden und wunderbare Parkanlagen am Río Carrión. Hier kann ich unter Rosenbüschen durchatmen, bevor mich auf dem Rückweg mein erster Heimwehanfall erwischt. Aus einer Bar klingt Musik von Buena Vista Social Club, ausgerechnet mein Lieblingssong Chan Chan, mir fehlen plötzlich meine vertrauten Dinge und ich fühle mich schrecklich einsam. Wäre ich doch zu Hause...
Wieder retten mich Brad und Savannah, diesmal sind sie es, die vor einer Bar sitzen. „Bist du jetzt allein? Hast du es geschafft dich zu trennen?“ Beim Erzählen vergeht die Wehmut und meine Fröhlichkeit kehrt zurück. Ist doch gut, dass ich hier bin.
Und dann schaut Eric aus einem vergitterten Klosterfenster und lockt mich mit einem von den Nonnen gebackenen Keks zu sich, wie die Hexe im Märchen. „Du bist so nett, ich mag dich.“ Wieder werde ich verlegen. „Und du hast so schöne Haut.“ Er streichelt mir über die Lederrunzeln an meinem Arm und ich werde rot wie ein Backfisch — was ist denn heute los? „Warum wirke ich auf euch junge schwule Männer so anziehend?“ Eric schaut ungläubig. „Nur weil ich dir erzählt habe, dass ich Berufstänzer war, glaubst du, dass ich schwul bin? Du irrst dich.“ Oh, wie peinlich, dieses Gespräch sollten wir besser hier beenden, ich möchte eh noch Kekse kaufen gehen und fliehe mit klopfendem Herzen.
Die Abendmesse im Kreis der Einheimischen ist für mich schon ein lieb gewordenes, beglückendes Ritual, obzwar mir die protestantischen Lieder fehlen und ich nichts von dem verstehe, was der Priester sagt. Da tue ich einfach, was die Anderen tun, lasse meinen Geist still werden, und gehe wieder zur Kommunion, obwohl ich inzwischen weiß, dass ich dafür katholisch sein muss. Doch wer will mir das verbieten? Das ist eine Privatsache zwischen Gott und mir, ER liebt mich, ohne meine Konfession zu beachten. Würde ich mich so zugehörig und getragen fühlen, wenn nicht alles im Einklang wäre?
Viele Pilger treten für den Reisesegen vor den Altar, auch Eric, der mich wie selbstverständlich brüderlich in den Arm nimmt. Gemeinsam werden wir gesegnet und mit Weihwasser besprengt, bevor der Priester uns bittet zu bleiben; er möchte uns Gästen die Legende der 100 Jungfrauen erzählen die zur Gründung dieser Kirche führte. Auf Spanisch. Und eine Französin übersetzt ins Französische und Eric übersetzt ins Englische:
Ein grausamer Maurenherrscher verlangte 100 spanische Jungfrauen als jährlichen Tribut. Ihre verzweifelten Eltern beteten zur Jungfrau Maria um Hilfe und sie griff ein. Die Heilige Mutter schickte bei der Übergabe eine Herde wilder Stiere, von der die Mauren in die Flucht geschlagen wurden. Die Jungfrauen waren gerettet.
Der Priester ist ein virtuoser Erzähler, macht ein Schauspiel aus der Geschichte, bezieht eine Marienstatue und ein Wandbild mit flüchtenden Kriegern, schnaubenden Stieren und zarten Mädchen ein, macht aus dem Drama ein köstliches Spektakel. „Und
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