Wie ich nach Santiago de Compostela ging und ganz woanders ankam
einem kleinen Fluss. Wie hübsch. Doch dahinter steht die Wand eines lang gestreckten Tafelberges. Muss ich da wieder hinauf? Wo führt der Camino weiter? Da scheint sich ein steiler Pfad hinaufzuwinden, auf dem lauter kleine Gestalten mit Rucksäcken zu erkennen sind. Shit, das ist der Weg. Ein Gemsenpfad. Fast zwei Kilometer extremer Steigung auf gerölliger, ausgewaschener Piste. Uff. Und dann dieser junge Kerl, der mir im Vorbeigehen aufmunternd zunickt, als wollte er sagen ,Na, wenn du das man schaffst, Alte‘. Ha, ich schaff alles, bin schließlich über die Pyrenäen gegangen und fürchte mich nicht mehr vor Anstrengung. Und wenn auch mein Schweiß bei jedem Schritt stärker strömt und die Beine schwerer werden, fühle ich mich gut. Nein, ich muss nicht einmal stehen bleiben, bin nach einer halben Stunde oben auf der Hochebene und sehe entzückt, wofür ich mich gern hier hinaufgequält habe: Die faszinierende Rundumsicht über Hügel, Täler und Dörfer bis zu unvorstellbar weit entfernten Riesenbergen ist wie ein Gottesgeschenk und eines der schönsten Panoramen, die ich je sah. Schade, dass es bald wieder hinunter geht, doch diese herrlichen Bilder machen mich so fröhlich, dass ich jetzt alles schön finde. Und dann erreiche ich eine Quelle mit wohl schmeckendem Wasser und einem Becken zum Füßekühlen, bewundere das einzeln stehende, gotische Refugio San Nicolás am Río Pisuerga, quere die achtbogige Steinbrücke darüber und lege mich zur Mittagsrast in einen Hain am Fluss. Es ist kühl hier und ruhig, nur das Wasser rauscht. Vögel fliegen auf, große zebrafarbene und kleine blaue Schmetterlinge taumeln herum.
Warum kann ich die Pause nicht genießen, will schon wieder weiter? Ist es wegen Maja, flüchte ich vor ihr? Ich möchte meine Entscheidung endgültig gutheißen, nicht mehr zweifeln, und mir fällt Gertraudes Akzeptanzübung ein. „Massiere mit den Fingerspitzen der rechten Hand kreisförmig den Bereich unter dem linken Schlüsselbein, und sag dazu: ich akzeptiere mich voll und ganz, auch wenn mein Handeln nur für mich gut ist.“ Ob es hilft? Ich glaube daran, tue es, fühle noch keine Veränderung, doch bin sicher, dass es wirkt.
Itero de la Vega liegt wie tot in der Mittagssonne; dahinter beginnt die Tierra de Campos, Kornkammer schon seit Römerzeiten, doch jetzt im September sind es verbrannte Stoppelfelder. Noch acht Kilometer bis zum nächsten Ort durch diese wüstenhafte Steppe auf schnurgeradem, kieseligem Weg. Wie gut, dass ich in einem Kanal meine Arme kühlen kann. Auf dem Bauch im Staub liegend. Egal.
Und dann sehe ich vor mir eine kleine, trippelnde Gestalt in halblanger Hose mit rutschenden Socken in klobigen Stiefeln; schon gestern ist er mir aufgefallen, mit seinem Schlapphut, der gebeugten Haltung und einem Buch in der rechten Hand. Heute spreche ich ihn an, und Paul aus Lyon lächelt durch seine dicken Brillengläser und gibt mir zu verstehen, dass er kaum Englisch kann und Deutsch schon gar nicht. Macht nichts, irgendwie verständigen wir uns, und als er sagt, „It’s a long way to Santiago“, fällt mir dazu die Melodie von ,it’s a long way to Tipparary’ ein, und wir texten und schmettern gemeinsam: „It’s a long way to Santiago it’s a long way to go it’s a long way to Santiago but we do it God likes it so“. Lachend verabschieden wir uns bald voneinander, weil ich schneller als er bin. „Buen camino, wir sehen uns sicher wieder.“
Es ist Nachmittag, höchste Zeit, dass der Kirchturm zwischen Bäumen Boadilla ankündigt, für heute reicht es. Ich bin dreißig Kilometer gegangen und mein „Hurra“ klingt matt. Ich möchte jetzt bitte ein Plätzchen zum Ausstrecken. Aber nicht in der Dorfherberge im ehemaligen Schulhaus. Sie ist mir zu eng und zu dunkel und zu einsam. Nein, ich gehe weiter, es soll hier auch eine private Herberge geben, die paar Schritte durch dieses öde Dorf schaffe ich noch, am Pranger und einem riesigen Steinkreuz vorbei Richtung Kirche, dem Schild nach in einen Torweg.
Ja, das ist es, meiner stolzen Leistung gebührt dieser großartige Platz: Ein blühender Garten voll fröhlicher Leute, mit adretten Gebäuden rundherum und einem richtigen Restaurant, in dem es frisch gepressten Orangensaft gibt. Edward, der nette Junge an der Rezeption behandelt mich wie eine Fürstin, nennt mich respektvoll Mama, nachdem er das Foto meiner Jungs in der Credencialhülle neugierig inspiziert hat, schnappt sich meinen Rucksack und sucht mir ein
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