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Wie ich nach Santiago de Compostela ging und ganz woanders ankam

Wie ich nach Santiago de Compostela ging und ganz woanders ankam

Titel: Wie ich nach Santiago de Compostela ging und ganz woanders ankam Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: HanneLore Hallek
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draußen über dem Portal findet ihr zum Gedenken die Köpfe von vier toros.“
    „Heads of tourists?“ Graham schaut verwirrt. „Nein, toros, Graham. Stiere.“ — Gut, dass wir zu lachen haben, denn langsam breitet sich allgemeine Panik aus. „Wisst ihr schon, dass es morgen auf 16 Kilometern nichts zu essen und zu trinken gibt. Nicht mal eine Quelle?!“ Ja, wir wissen es, alle reden darüber und klagen, dass heute die Geschäfte geschlossen sind und wir sicher auf dem Weg verschmachten werden. „Dann lasst uns jetzt unsere vielleicht letzte Mahlzeit überhaupt einnehmen — vielleicht bleichen schon morgen unsere Gebeine am Wegrand.“ Graham und ich schließen uns einer zufällig gebildeten Tischgemeinschaft an, doch heute ist schräge Stimmung und ich bleibe nicht lange, lasse mich bald zu meiner Klosterzelle begleiten. Den liebenswürdigen Graham, den ich nie wieder sehen werde, auf meiner linken Seite, und einen schweigsamen Eric zur rechten.

Mein Panzer schmilzt
Carrión de los Condes — Terradillos de los Templarios > 27 km

    „Geh morgen so früh los, wie du kannst, es wird für viele Stunden keinen Schatten geben. Der Weg aus der Stadt ist leicht zu finden. Über die große Brücke, am Kloster San Zoilo vorbei und dann nur geradeaus. Du kannst es nicht verfehlen.“
    Wie ich solche Ratschläge und die dahinter verborgene Fürsorge liebe, Danke Graham! Klar, dass ich dem folge und als Erste leise den Schlafraum verlasse, meine Kleider auf den Leinen im dunklen Innenhof suche und im Flur packe. Nur die Frühaufsteherfranzosen aus einer anderen Zelle sitzen schon in der Küche und diskutieren das heutige Ernährungsproblem. „Habt ihr genug Essen?“ „Nein“, Roberte hat gar nichts. „Darf ich dir mein halbes Kekspaket schenken?“ Nicht ohne Hintergedanken bin ich froh, dass sie es nimmt. 250 Gramm weniger Gewicht bedeuten weniger Leiden, denn ich muss mir eineinhalb Liter zusätzliches Wasser aufladen. Für geschätzte vier Stunden Weg ist mein obligatorischer Liter einfach zu wenig.
    „Buen camino, amigos.“ Über dem beleuchteten Klosterkirchturm liegt die schmale Mondsichel am schwarzblauen Himmel. Welch ein herzbewegendes Bild. Wehmütig nehme ich Abschied und laufe in die dunkle Stadt. Nur das Gerumpel eines Müllwagens übertönt den Hall meiner Schritte zwischen den Häusern. San Zoilo liegt wie ein riesiger, schwarzer Stein am Weg, und an der großen Straßenkreuzung hinter der Stadt blinkt eine gelbe Ampel für niemanden.
    Wo auf dem Camino bin ich jetzt? Jeder nennt andere Kilometerzahlen, doch wenn meine seltsame Rechenweise annähernd stimmt, habe ich mehr als den halben Weg hinter mir, bin mehr als 400 Kilometer gegangen! Das ist sogar für mich, die ich nicht darüber nachdenke, wo ich bin und wie weit es noch ist, ein tolles Gefühl und Anlass zu Stolz. Was könnte mich jetzt noch vom Ziel abbringen? Vielleicht Krankheit oder Schlimmeres, doch ich fühle mich sicher. Ich werde ankommen.
    Eine kleine Teerstraße führt in die vollkommen flache Landschaft und wird nach einer Stunde zur schnurgeraden Piste durch ödes Land. Dessen Eintönigkeit wäre nur dann noch schlimmer, wenn Pauls Horrorgeschichte stimmte, dass es auf der gesamten Strecke nur zwei Bäume gibt, doch neben Gräben sind junge Pappeln gepflanzt. Sie geben zwar noch keinen Schatten, sind jedoch Blickfang vor der Steppe und den teilweise abgebrannten Feldern, deren schwarze, tote Flächen in der Morgendämmerung gespenstisch wirken. Meine Beklommenheit weicht erst mit dem Sonnenaufgang, doch Erinnerungen und Traurigkeit steigen in mir auf- und das Lied ,Morning has broken’, das untrennbar mit zwei Freunden verknüpft ist. Sie sind schon lange tot, doch heute trauere ich um sie und lasse meinen Tränen freien Lauf. Warum diese alten Tränen? Kann ich mich gehen lassen, weil ich allein bin? Es tut mir gut, mit Friedrich und Bernd Zwiesprache zu halten und für ihre Liebe zu danken. ,Ich werde euch nicht vergessen.’ Nein, ich bin nicht gefühlsduselig, spüre nur meine Empfindungen klarer und lasse sie zu. Auch die Dankbarkeit, die meine Tränen ablöst. Dankbarkeit für meine Familie, die Liebe meines Mannes und meiner Söhne. Und dafür, dass ich hier gehe. Irgendetwas passiert seit gestern mit mir, mein Panzer scheint aufzuweichen.
    Und in diese Rührung hinein schenkt mir ein Wanderer eine Hand voll köstlicher, dicker Weinbeeren...
    Wenn nur mein Rucksack nicht so schwer wäre. Am Gewicht der Wasserflasche

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