Wie ich nach Santiago de Compostela ging und ganz woanders ankam
nicht auch im Herbst in die Wärme? Vielleicht wäre ich jetzt besser zu Hause.
Steine
Rabanal de Camino — Riego de Ambrós > 21,5 km
Ich funktionierte wieder, fast so zuverlässig wie immer. — Bloß nicht länger schwächeln als unbedingt nötig, die Zähne zusammenbeißen wie gewohnt...
Aber die äußeren Unbilden waren nicht mehr die wirkliche Herausforderung. Mehr und mehr ging es um eine andere Ebene. Ich nahm wahr, was um mich und mit mir geschah, wurde davon aber nicht wirklich berührt. Es fühlte sich an als wäre ich in meiner Mitte angekommen. Das Wichtigste waren meine Gedanken und die Leere, meine Gefühle und mein Abseitsstehen.
Die Herausforderungen hören nicht auf. In der Nacht war ich vor Kälte zitternd aufgewacht, meine Nase tropft und ich friere beim Aufstehen bis auf die Knochen. Dennoch freue ich mich auf diesen Tag — besonders auf diesen, weil ich gespannt auf das Cruz de Ferro bin — das mystische Symbol des Jakobswegs schlechthin für mich. Paolo Coelho hat diesen Platz sehr geheimnisvoll beschrieben und meine Neugier geweckt; in einigen Stunden werde ich dort sein.
Aber erst mal muss ich aufstehen und mich auftauen, meinen Körper auf normale Temperatur aufheizen. Zum Glück gibt’s heißes Wasser und ich brühe mich ab, bis der Dampf im Duschraum so dicht ist wie der Nebel draußen und ich mich weich und wohlig fühle; spüle Heimweh und Selbstmitleid in den Abfluss, bin wieder die Löwin — mit kleinen Behinderungen — bereit zu neuen Abenteuern!
Das erste wartet schon: Zwanzig Schritte durch die Kälte, um in die warme Küche hinüber zu kommen, wo der nette Hospitalero zum erstklassigen Frühstück mit Unmengen Tee Geschichten erzählt, während er mich bedient. Wo mir plötzlich beim Geschmack des frischen Brotes bewusst wird, dass meine Esskultur verloren gegangen ist: es ist mir gleichgültig geworden, was ich in mich hineinstopfe, ich esse nur noch zum Selbsterhalt, gierig und maßlos wie ein Tier in der Wildnis. Nur Essentielles ist noch wichtig, satt und warm zu sein wie jetzt. Und mich sicher zu fühlen, wie heute Morgen nach den Fortschritten der letzten Tage. Darum kann ich auch wieder allein gehen, nur mit meinen Gedanken und den Steinen, die ich zum Cruz de Ferro tragen will, wie alle Pilger seit tausend Jahren, um symbolisch Sünden abzuladen.
Ich reihe mich in die Menge der anderen Wanderer, gehe hinter ihnen ins Dunkle. Durch Matsch und Pfützen, Nieselregen und dicken Nebel, der die verheißene schöne Aussicht verschluckt, hinauf nach Foncebadón. Sechs Kilometer holprige Pfade und leere Landstraßen durch feuchtes Grau. So verlassen schien mir die Welt noch nie. Und der Ort? Entlang der Dorfstraße liegen Berge schiefergrauer Trümmer, gibt es keine Fassade, kein Dach mehr, alles scheint seit Generationen verlassen. Auch dies soll ein wichtiger Ort des historischen Jakobsweges gewesen sein? Nichts ist davon geblieben. Der Hirte, der mit seinen Ziegen aus dem Nebel auftaucht, verstärkt noch den gespenstischen Eindruck dieses scheinbar irrealen Szenarios. Wie im Film. Bis plötzlich Mona vor mir steht. „Willst du Café trinken gehen? Ich war grad im neuen Restaurant neben der wieder aufgebauten Herberge. Hier soll ein Touristenzentrum errichtet werden, eine der alten Pallozas hat man schon rekonstruiert.“ Da steht der traditionelle, fensterlose Rundbau aus Granit, unter dessen Strohdach in alten Zeiten Menschen und Tiere zusammen lebten. Sieht ganz hübsch aus mit seinen Verzierungen aus keltischen Symbolen; aber trotzdem, vielleicht ist es hier schön, wenn die Sonne scheint, jetzt ist es nur unübertrefflich trist. „Komm, wir gehen zusammen, es ist nicht mehr weit. Schau, dort waren früher das Kloster und die Herberge.“ Irgendwo im Nebel sind Ruinen zu ahnen, dann folgen Feldwege zwischen Gneismauern, meterhohem Ginster und Heidekraut — bis wir auf dem Pass des Monte Irago sind, am höchsten Punkt des Camino Francés, auf 1.517 Metern Höhe. Vor einem gigantischen Steinhaufen, aus dem ein mächtiger Eichenstamm ragt. Er trägt ein eisernes Kreuz, das Cruz de Ferro.
Ja, da bin ich nun endlich — im kalten Dunst, in einem unerwarteten Pilgergewimmel und muss warten, bis ich auf dem festgetretenen Pfad über Geröll zur kleinen Freifläche am Fuß des Kreuzes hinaufsteigen kann. Schon vor zweitausend Jahren haben die Römer hier ihrem Gott Merkur gehuldigt, und jetzt gehen wir skeptischen Heutigen hierher, um unsere Sünden
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